Kopflos

Kopflos. Ein seltsames Wort, wenn man drüber nachdenkt. Denn kopflos, das ist ja aus der Perspektive des Körpers gedacht, dem das Haupt abhanden gekommen ist. Aber wie sollte ein kopfloser Körper denken, welche Perspektive könnte er haben? Umgekehrt dagegen, so ein Kopf ohne Körper, das ist in der gewalttätigen Geschichte der Menschheit wie ihren Sagen und Mythen ein Siegeszeichen, eine blutige Trophäe. Manchmal auch ein Objekt der Begierde, wie bei Salome. Die Inszenierung des gleichnamigen Musikdramas von Richard Strauss, die Mariame Clément im letzten Jahr fürs Aalto-Theater geschaffen hat, hat es in sich …

Eine junge Frau, so lebenshungrig wie zerrissen: Salome (Annemarie Kremer) Foto: Martin Kaufhold

Die Bühne (Julia Hansen) – sowohl das Untergeschoss der Bediensteten als auch Salomes übergroßes Mädchenzimmer – ist eher unauffällig, zugleich modern wie zeitlos und damit so annähend heutig wie die Kostüme. Salome (intensiv und komplex: Annemarie Kremer) selbst trägt Jeans, und beim berühmt-berüchtigten Schleiertanz darüber ein rosa Tutu. Herodes (Jeffrey Dowd) Geschenk an seine Stieftochter, ein vergiftetes, in dem sich das Ungeheuere seiner Beziehung zu ihr spiegelt: Kind soll sie sein und Frau, und seinem Begehren nachgeben ohnehin. Ihre königliche Mutter Herodias (Marie-Helen Joèl), von Jochanaan (trotz Erkältung überzeugend: Almas Svilpa) geschmäht als Hure, reicht ihm wohl nicht mehr und ihre Macht reicht nicht, ihn von Salome fernzuhalten.

Das Drama des Begehrens hat etwas von einem schiefen Reigen: Herodias scheint einst mit Begehren über die Männer geherrscht zu haben, bis Herodes sie zur Frau und Königin begehrte; nun ist er ihrer übdrüssig und begehrt statt dessen Salome, während er Jochanaan fürchtet, Herodias dagegen fürchtet um Salome und hasst Jochanaan, der wiederum, um endlich zum Kern all dieses gewaltigen Sehnens zu kommen, von Salome begehrt wird, die Herodes verachtet. Jochanaan jedoch begehrt nur Gott, wenn man das so sagen kann, und hasst, ganz religiöser Fanatiker, alles Fleischliche.

Wenn man das so aufschreibt, werden Parallelen zu Arthur Schnitzlers erotisch aufgeladenem Reigen aus dem Jahr 1903 wie auch zu Pandoras Büchse, ob als Wedekinds Stück von 1902, als Stummfilm von G.W. Pabst von 1929 als auch Alban Bergs unvollendeter Oper Lulu unübersehbar: weibliches Begehren schürt männliche Begierde und bringt Tod und Verderben, so scheinen es die Herren der (Bühnen)Schöpfungen um die letzte Jahrhundertwende gesehen zu haben. Und bis heute ziehen die Stoffe, sonst stünden sie ja nicht immer wieder auf den Theater- und Opernspielplänen.

Vieles davon erscheint mir als intelligenter Frau hundert Jahre später albern, unglaubwürdig, Altherrenerotik halt. Dass Clément Salomes Geschichte noch vor Beginn des eigentlichen Dramas in Form von stummen „Geburtstagsfilmchen“ mit dem Missbrauchsthema auflädt, gibt dem Stoff (bzw. dem Sujet) eine reale, fassbare Brisanz. Nicht die Frau – die Kindfrau! – ist das erotische Monster, das die Männer verschlingt, vielmehr sind es die Männer, die sie bedrängen.

Jochanaan wird dabei zum Opfer innerfamiliärer Verstrickungen und das auf geradezu tragische Weise: wie hätte Salome ihm mit der Engelsstimme widerstehen können, ihm, den Herodes fürchtet und der ihre Mutter unausgesetzt beleidigt? Sich diesen Mann als Objekt der Begierde zu suchen, hat etwas von gut beobachtetem Teenageraufstand der maximalen Art. Provokanter geht es nicht … und zugleich, wenn es ihr gelänge, den keuschen Propheten in seiner rigiden Religiosität zu verführen, was für ein Triumph ihrer Erotik wäre das! Was für eine Rache am – missbrauchenden – Stiefvater und zugleich was für eine Ohrfeige für ihre Mutter. Ein Teenagertraum … der natürlich scheitern muss und dann folgerichtig in Rache umschlägt. Was für ein roter Faden für eine Operninszenierung.

Und was für eine Musik! Nichts gefälliges, sondern ein kühner Entwurf; nichts, das einfach mitreißt, sondern lauter Zerrissenheiten; keine Melodien, sich daran festzuhalten, sondern gelegentlich schon Ausflüge ins Atonale. Manches klang schon fast wie bei Alban Berg oder Schönberg – Instrumente und Stimmen als konsequente Solisten, jeder auf seiner Spur, alle mit eigenem Rhythmus, individuellen Linien, als wolle, als müsse sich jeder gegen alle anderen behaupten. Kopfmusik, nichts für den Bauch. Und das bei dem Stück übers Begehren und den Propheten, der seinen Kopf dank einer tanzenden Prinzessin verliert … eine seltsam passende Ironie des Schicksals äh Komponisten, wie ich finde.

Aber vielleicht ist das auch nur meine Interpetation, meine Wahrnehmung von Mariam Cléments Lesart und Strauss würde möglicherweise über uns beide ins Toben geraten wie Joachanaan …

P.S.: Was eine ganz eigene Denkstrecke wert wäre, ist die Frage, ob es wohl für Oscar Wilde als Libretisten eine Rolle spielte, dass sein eigenes homosexuelles Begehren in diesem Stoff so gar keinen Platz hat.

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