Kunst, die den Betrachter kalt lässt, Literatur, die den Leser emotional nicht zu packen vermag, ist dazu verdammt, wirkungslos zu verhallen, stellt Siri Hustvedt in ihrem Essay „Sontag an Smut: Fifty Years Later“ fest. Aber Gefühl allein reicht auch nicht:
Emotion, then, is no guarantee that a book is good. If the reader is left in exactly the same place she was when she began reading, why read?
[Hustvedt, A Woman Looking at Men Looking at Women, p. 76]
Das scheint mir eine gute Frage – natürlich kann Lesen einfach ein Zeitvertreib sein und selbst vorhersehbare Genreliteratur unter passenden Umständen für angenehme Ablehnung sorgen, wenn’s Kunst sein soll, muss es mehr können. Große Literatur verändert den Leser, den Betrachter, so formuliert es Hustvedt:
I share Sontag’s opinion that great literary works carry within them something startling, if not shocking, a kind of recognition that could never have happened had you not read that particular book. They are transformative. They lift you out of the expectations that guide your perceptions of how things are and make a mark, sometimes a wound that never leaves you.
[Hustvedt, ebd. p. 77]
Vermutlich haben die meisten lesenden Menschen sofort Bücher, Geschichten, manchmal vielleicht sogar Sätze, Zitate im Kopf, die sie so tief berührten, die ihre Wahrnehmungen oder auch ihr Verständnis von der Welt auf den Kopf stellten. Ich erinnerte mich z.B. an die Erschütterung, die eine Premiere von Rostands „Cyrano de Bergerac“ in mir auslöste; alle anderen Zuschauer waren längst gegangen, nur ich stand noch im Seitenfoyer, aufgewühlt und sprach-los – und als mich mein Lebensmensch so fand, und wissen wollte, was los sei, stammelte nur, dass ich keinen Satz mehr schreiben wollte, weil es unmöglich sei, etwas auch nur annähernd so Schönes, Tiefes, Berührendes zu schreiben wie dieses Stück.
Ein „Vorhaben“, das ich, wie man unschwer an diesem Artikel, ja dem ganzen Blog an sich erkennen kann, nicht eingehalten habe – was gut ist, denn so kann ich nun schreibend darüber nachdenken, warum mich Hustvedts Essays zwar vielleicht nicht gar so tief erschüttern, aber doch definitiv in ihren Bann ziehen und berühren. Wie etwa ihre Überlegungen zum Schreiben an sich im Essay „The Writing Self and the Psychiatric Patient“:
Writing is probably not more than 5,500 years old, a fact that still astonishes me. And yet, the truth that all literate people are capable of expressing internal and external realities by means of little hieroglyphs on a page that can be read and understood by others who share those same little markings as symbols of meaning has a miraculous quality. The act clearly involve the mental, but what is the mental? It involves what we think of as social, psychological, and biological factors, but how are they parsed? Long ago I learned how to write and now the act of moving a pen across a page or typing a laptop has become unconscious and automatic, part of the motor-sensory systems of my brain and body that are clearly biological. Due to plasticity and developmetn, the literate brain is notably different from the illiterate brain. Reading and writing have changed my mind over time.
[Hustvedt, p. 102]
Wie seltsam – natürlich weiß ich, die ich nicht nur Ägyptologin hatte werden wollen, sondern als 14jährige altägyptische Hieroglyphen lesen konnte, dass das Schreiben erst mit den Hochkulturen in die Welt kam. Aber dass es sich am Gehirn ablesen lässt, ob eine Person lesen und schreiben kann, war mir nicht klar. Und über die genauen Zuammenhänge, das komplexe Zusammenspiel, das physisch wie psychisch nötig ist, um Lesen wie Schreiben zu ermöglichen, habe ich mir so noch nie Gedanken gemacht. Und das, obwohl ich die Grunderfahrung hinter Hustvedts Essay – kreatives Schreiben für Menschen mit Psychiatrieerfahrung zu unterrichten! Wie blind und wach man zugleich sein kann- und wie oft es nötig scheint, das Eigene, Vertraute durch die Worte eines anderen neu zu sehen.
Solche Wieder-Begegnungen, Neu-Erfahrungen lieferte auch der letzte Essay der Sammlung, „Inside the Room“, in dem Hustvedt sich mit den Auswirkungen ihrer eigenen Therapie/Analyse-Erfahrungen und ihrem Schreiben beschäftigt:
Relaxation is vital to creativity. The best work is done when the whole body is relaxed, in a state of openness to what lies beneath. Schiller knew this. Tension, anxiety, fear inhibit the release of essential material – the dream work or a kind of dream work – that comes to light during the day rather than at night.
[Hustvedt, p. 133]
Für mich ist das stimmig – deshalb schreibe ich am liebsten morgens im Bett (oder spätabends auf dem Sofa ;-)); deshalb kann es helfen, zu schlafen, wenn man sich in kreativen Problemen verfangen hat, und deshalb ist viel dran an der Weisheit, dass man Kreativsein nicht nach Stechuhr erzwingen kann, nur versuchen kann, möglichst die optimalen Bedingungen zu schaffen, unter denen Kreativsein, sei es schreiben, malen, was auch immer, möglich wird.
Darum geht es ja letztlich bei aller Kunst: Möglichkeiten schaffen, sichtbar, lesbar machen. Nichtsdestoweniger muss ich mich jetzt entschuldigen: es ist schon wieder so spät, dass das Bett ruft. Vielleicht noch nicht gleich mit dem Sirenengesang der nächtlichen Träume, sicher aber mit der Bettlektüre. 🙂