Traditionslinien

Als Silviu Purcurates Inszenierung von La Bohème in Essen im Aalto Premiere feierte, war das zugleich der 101. Geburtstag dieser Puccini-Oper. Zwischen diesem Moment und der gestrigen Dernière lagen 21 Jahre. Was für eine lange Traditionslinie und doch eine Zeitspanne, die zugleich belanglos erscheinen dürfte, verglichen mit dem Alter manchen Instruments im Orchestergraben. Und ich sitze nun da mit einem seltsamen Paradox: was von dem, was gestern Abend so frisch und lebendig daherkam, war tatsächlich noch dasselbe oder auch nur vergleichbar mit der Premiere?

Jessica Muirhead als Mimi am Stadtrand auf der Suche nach ihrem Rodolfo. Foto Saad Hamaza

Das Regiekonzept, eine gelungene Mischung aus spätem 19. Jahrhundert und modern anmutenden Elementen wie der langen Theke des Cafés Momus, vermutlich. Und das Bühnenbild von Johannes Leiacker mit seinen abstrakt-verschneiten Schiebeelementen, den gestaffelten Bühnenbereichen, die die Tiefe der Aalto-Bühne noch unterstreichen, dem naturalistischen Künstlermansarde, dem minimalistischen Café (außer der erwähnten Theke gibt es nur eine Leuchtreklame, sonst nichts) sowie dem wunderschönen Landschaftsprospekt, der den Stadtrand zugleich poetisiert wie überraschend realistisch auf die Bühne holt, sollte sich das nicht gleich geblieben sein? Allerdings, in gut 20 Jahren muss da manches ausgebessert und erneuert worden sein. Wie viel von dem, was ich gestern sah, stand tatsächlich schon da, als das Premierenpublikum applaudierte?

Und von den Musikern und Sängern, ob da auch nur ein einziger bereits 1997 dabei war? Möglich wär’s, denn wer Ende der 1990er im Kinderopernchor mitsang, mag im Lauf der Zeit Profi geworden sein und in den regulären Aalto-Opernchor gewechselt haben. Mitreißend waren gestern Abend beide Chöre, genau wie der Kellner des Cafés – ein junger Mann, der das erste Mal am Grillo in einem Arbeitslosenchor einer Schauspielinszenierung von Volker Lösch auf der Bühne stand – mit seiner stummen Rolle doch sehr zur Erheiterung beitrug und die Szene merklich belebte.

Die wie vielte Mimi war die wunderbare Jessica Muirhead in dieser Inszenierung wohl? Eine rein akademische Frage, ich hätte niemand anderen in dieser Rolle sehen und hören wollen. Ihr Sopran berührt selbst mich, die ich sonst mit der Stimmlage meine Probleme habe, und ihr Spiel hat eine erfrischende Natürlichkeit. Rodolofo, der Dichter, der die Todkranke liebt, dagegen – nun, ganz so überzeugend erschien mir Carlos Cardoso gestern Abend nicht, hatte der Tenor doch gelegentlich Schwierigkeiten, mit der Stimme über den Orchestergraben hinweg zu kommen. Sein Malerfreund Marcello dagegen, gesungen vom Bariton Nikoloz Lagvilava, hatte solche Probleme nicht – stimmlich wie schauspielerisch zog er alle Register und das Publikum samt mir in seinen Bann. Ob das wohl auch dem ersten Marcello in Purcurates Inszenierung gelang?

Ich weiß es nicht, genau wie ich nicht sagen kann, wie viel vom Regiekonzept, von der Seele der Inszenierung hat all die Jahre, die Veränderungen im Aalto-Theater und in der Welt, die Umbesetzungen und Wiederaufnahmen überlebt. Und wohin entschwindet das, was diese Inszenierung ausmachte, nun, da sie nicht mehr gegeben wird, da diese Traditionslinie ihr mit regem Applaus und stehenden Ovationen bedachtes Ende fand?

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