Vorsicht, Absturzgefahr!

Manchmal ist die Haut, der Schleier oder wie immer man das nennen will, was Alltagswirklichkeit und inneren Abgrund trennt, hauchdünn. Dann braucht es nur einen einzigen falschen Schritt, und nichts stimmt mehr: lockedob1

Ohne Titel
Ein Raum, erhaben und tötend zugleich in seiner Gleichförmigkeit.
Seine Leere erwartet nichts, sie ist, sie war, sie wird sein. Kein Laut, nicht mal der Hall eines weit entfernten Schrittes. Nichts, was diesen Ort mit der Welt, der anderen Welt und der Welt der anderen in Verbindung bringen könnte. Die Tür ist eine Attrappe, oder, mehr noch: eine Falle, denn sie führt nirgendwohin. Einmal in diesem Zimmer, gelten weder die Gesetze des Men­schen noch die der Natur. Schließlich gibt es keinen Weg, auf dem man ankom­men oder entfliehen könnte. Daher ist es auch unwesentlich, ob die Tür sich öff­nen ließe. Und die Tür bedeutet nur Qual für den, der das Unglück hatte, in die­sen Raum zu gelangen. Sie erinnert an die Möglichkeit zu fliehen, sie könnte Hoffnung sein, aber sie ist tot und leer, wie das Zimmer selbst. Darum hat auch nie ein im Raum Befindlicher je ihre Klinke berührt – allein der Gedanke, sie könn­te nirgendwohin führen, macht sie zu einem unerträglichen, stummen Symbol.
Und sie macht den Eingeschlossenen stumm. Ein Schrei, den niemand hören könnte, ein Ruf, auf den keine Hilfe möglich wäre – eine lähmende Hoff­nungslosigkeit. So wendet sich der Schrei, noch bevor er die Lungen erreicht, und bohrt sich in die Eingeweide, gleich einem toten, vom Himmel gefallenen Vo­gel. Zunächst beruhigt der Schmerz. Schmerz in absoluter Leere – wenigstens ein Beweis der eigenen Existenz. Doch während dieses Nichts, diese unbarmher­zige Unveränderlichkeit einen in die Knie zwingt, schwillt der stumme Schrei im Körper an, bis der Schrei den Körper beherrscht – nur noch Stille und ein Schrei, den kein Ohr vernimmt.
Mit dem Rücken zur Tür, auf dem Boden liegende, die Knie zum Bauch gezogen und die Arme an die Ohren gehoben, versucht man sich abzukapseln. Das bißchen Leben in sich zu sammeln, aufzusparen. Aber – wofür nur? Hier ist al­le Bewegung, jeder Gedanke und jede Tat nutzlos, die Leere schluckt alles. Man versucht, abzuwarten, das innere Gewitter und die nervenzerreißende Spannung zum immerwährenden Raum einfach auszuhalten. Ständig hin- und hergerissen zwi­schen Angst vor dem Tod der Bewegungslosigkeit und vor dem tödlichen, irrsinnigen Schmerz im Inneren.
So zur Bewegungslosigkeit, zum Nichtsein verurteilt, sind die Gedan­ken, die Kinder des Wahnsinns, das einzig lebendige. Man durchmißt Äonen der Ewigkeit, bevor man sich dort wiederfindet, von wo man ausging. Unbeschadet am Leib, noch immer nicht verrückt, lediglich mit dem Gefühl blutigen Schleims und dem Nachhall eines Schmerzes, der an den der Geburt erinnert.
(1986)

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Eine Antwort zu Vorsicht, Absturzgefahr!

  1. Diese Zeilen begegnen mir wie ein Blick in das Gesicht einer alten Bekannten. Sie als auch eigene Zeilen aus der Vergangenheit (auf ein jüngstes Ereignis folgend wieder entdeckt) haben mich daran erinnert, ein lange fälliges Thema abzuhandeln.
    Zwar erscheinen sie mir ein Weckruf an Dämonen im Dämmerschlaf, doch vielleicht sollte ich gerade deshalb dankbar sein.

    Ein Dank an die Verfasserin.

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