Wie schön, dass manches auch in dieser Zeit, wo ‚alles‘ nur einen Klick entfernt zu sein scheint, nicht immer zur Verfügung steht. Schuberts Liederzyklus „Die Winterreise“ kann man jedenfalls live nur zwischen November und Februar genießen. Meine 2002 dazu entstandene Kurzgeschichte „Der Lindenbaum“ dagegen … nun, den Anfang derselben können Sie hier jederzeit nachlesen:
Der Lindenbaum
von Mischa Bach
Ich träumt in seinem Schatten
so manchen süßen Traum.
Die Musik ließ sie die harten Stühle der Aula vergessen. Sie entführte Annette an einen fernen, geheimen Ort, wo die sonore Stimme sie einhüllte, nur ihr schmeichelte, ganz ihr eigen war. Nichts zählte mehr, weder seine Frau noch ihr eigenes Schattendasein als fleißige Studentin, die sich um ihre alte Mutter kümmerte, statt auf Partys zu gehen. Selbst Annettes Geldnöte verloren vorübergehend ihren Schrecken, für den Moment war es belanglos, dass sie so nie ihren Ambitionen folgen und auf internationalen Konferenzen zu glänzen könnte. Eng war ihr Leben, eng und unbedeutend wie die Kleinstadt, der sie nicht entrinnen konnte – erst war es die Krankheit des Vaters, dann der Eigensinn ihrer Mutter, die sich weigerte, das windschiefe, renovierungsbedürftige Fachwerkhaus zu verlassen. Und nun gab es ihn, Privatdozent Prof. Dr. Haberle, gutaussehend, klug, wie sie mit einem Faible für Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts, wie sie unterschätzt – noch hatte ihn kein Ruf ereilt, kein Lehrstuhl sich ihm geboten – und, wie sie, gebunden. Nur, dass es in seinem Fall statt einer altersstarrsinnigen Mutter eine reiche Gattin nebst Tochter war. An der Universität konnten sich Annette und Ferdinand kostbare Momente der Zweisamkeit stehlen, hier, in der Kleinstadt, brauchte das viel vorsichtige Planung oder Augenblicke wie diesen. Gelegenheiten, bei denen sie die gemeinsame Leidenschaft verbinden konnte, ohne dass andere es ahnten.
Vom Erfolg des Konzertes beschwingt gingen sie mit der Pianistin – seine Gattin war in ihrem Architekturbüro aufgehalten worden – vom Stadthaus hinüber zur Altstadt. Als sie den Platz mit dem Ensemble aus Lindenbaum und Brunnen überquerten, ließ Ferdinands Berührung Annette erschauern: Dort lungerte seine pubertierende Tochter Brigitte mit ihrer neuesten, halb verwahrlosten ‚Errungenschaft‘ zwischen Pennern und Punkern bierdosentrinkend herum. Armer Ferdinand, seufzte Annette stumm, dann verdrängte sie diesen einzigen Misston des Abends sofort wieder.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort
Die Zeit mit Biggy war die schönste seines Lebens, nur erinnern durfte er sich daran nicht. Doch die Bilder drängten sich auf, Bilder aus der Stadt, die seine Heimat hätte sein sollen, und ihre auch. Immer, wenn er ‚Heimat‘ dachte, kam ihm der Brunnen mit dem Baum in den Sinn. Genau da gehörte er hin, doch genau dort könnte er nie wieder hin. Er legte den Zeitungsartikel aus der Hand, der an die zehn Jahre alte und noch immer nicht verheilte Wunde rührte. Müder schloss er die Augen. Ohne es zu wollen, ließ er die Enge des Wohnwagens hinter sich zurück. Er vergaß den Zirkus, mit dem er seit Monaten durch die Lande zog, und schon war es zu spät …
Er war wieder sechzehn, zumindest ungefähr, denn niemand wusste so genau, wie alt er war, als seine Mutter ihn beim alten Pfarrhaus am Stadtbrunnen ausgesetzt hatte. Ganz gleich, in welchem Heim oder bei welcher Pflegefamilie man ihn gerade untergebracht hatte, stets zog ihn der Brunnen magisch an. Wann immer er konnte, wann immer er sich einsam, traurig oder wütend fühlte, hatte er sich dorthin aufgemacht – zu Fuß, per Anhalter oder schwarz mit dem Bus, wie, war egal, nur dort sein war wichtig. Die Leute am Brunnen störten sich nicht an seiner Anwesenheit, hier war er willkommen und niemand fand es merkwürdig, dass Norbert seinen richtigen Namen nicht sagte, sondern sich Nobody nannte. Genau hier meinte er, seine Wurzeln spüren zu können. Hätte doch sein können, dass seine Mutter eines Tages Sehnsucht nach ihm bekam, und den Moment wollte er unter keinen Umständen verpassen.
Je öfter er herkam, um so mehr glich er sich den anderen ‚Brunnenmenschen‘, den Pennern und Punkern, den Stadtstreichern und Junkies an, die hier tagaus, tagein ihr Bier tranken, palaverten und gelegentlich Passanten anschnorrten – die einzige Berührung zwischen den beiden Welten, die einander sonst konsequent ignorierten.
Eine ganze Weile schien dieser Zustand für alle Seiten halbwegs erträglich. Nur gelegentlich beschwerten sich die Ladenbesitzer, weil sie glaubten, so Kunden zu verlieren. Manchmal kam die Polizei auch ohne einen solchen Vorwand. Nobody vermutete, dass dann die Kriminalstatistik aufgepeppt werden musste. Aber das waren nur vorübergehende Störungen, es hielt nie lang an. Spätestens nach einer Woche war am Brunnen wieder alles beim Alten.
Bis Biggy auftauchte. Die Vierzehnjährige sprühte vor Energie, sie mischte den ganzen Verein gründlich auf, veranstaltete Spontandemos und improvisierte ‚Schlägereien und Todesfälle‘ auf dem Platz. Anfangs fanden alle das lustig, aber als dadurch der Ärger mit Anwohnern und Polizei noch größer wurde, gingen sie auf Abstand. Nur Nobody hielt weiterhin zu ihr. Sie hatte ihm verraten, wie einsam und verlassen sie sich fühlte, weil ihre Eltern sie nicht beachteten – es sei denn, sie machte richtig verrückte Sachen, und selbst dann bestand die Aufmerksamkeit meist in einem neuen Therapeuten oder einem weiteren Sanatoriumsaufenthalt. Nobody hatte sich nicht nur in sie verliebt, tief in ihm keimte auch die Hoffnung, dass es vielleicht auch seine Mutter mitbekäme, wenn es mit einer von Biggys Aktionen gelänge, sich richtig ins Rampenlicht zu rücken. Dabei hätte er wissen müssen, wie trügerisch Hoffnungen sein konnten.
Ohne Biggy wären ihm die Studentin und der elegant-angegraute Mann, die sich hier gelegentlich nachts trafen, kaum aufgefallen. Warum auch? Wen störte es, wenn sich unter dem Lindenbaum manchmal auch bürgerliche Liebespaare heimlich trafen? Doch Biggy war wie besessen von den beiden, bis sie nur noch von ihnen und dem ganz großen Coup redete. Wenn sie so drauf war, kam Nobody kaum mehr mit, es sprudelte nur noch aus ihr heraus, ihre Ideen überschlugen sich und ihm wurde schwindelig. Nach einer Weile begriff er immerhin, dass Biggy die beiden kannte – die Studentin war ihre Nachhilfelehrerin Annette und der Mann war verheiratet, das wollte sie nutzen, um die beiden zu erpressen. Da er inzwischen wusste, dass Biggys Eltern Geld hatten, verstand er nicht, was sie damit bewirken wollte. Wieso regten die beiden sie so auf – bei den letzten beiden Verabredungen hatten die zwei gestritten, und die Studentin hatte ihrem Lover sogar ein Ultimatum gesetzt. Doch Biggy blieb hart, gerade deswegen müssten sie schnell handeln, und sie schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis die beiden endgültig auseinander wären und das Medaillon der Frau ihres wäre. Er kam nicht gegen sie an, also ließ er sich mitreissen, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Zuerst lief alles wie am Schnürchen. Ins Kreismuseum einzubrechen und die alten Kostüme zu stehlen – „Tarnung ist alles“, hatte Biggy gesagt, und sich auf die alten Klamotten gestürzt -, war ein Spaziergang gewesen. Am Brunnen war niemand mehr von den üblichen Leuten, sie alle hatten sich in ihre jeweiligen Nachtquartiere verzogen. Die Studentin kam; sie traf meist vor dem Mann ein. Annette ging nervös auf und ab, und jedes Mal, wenn sie dabei unter der einsamen Laterne auf dem Platz vorbeikam, schien es Nobody, als seien ihre Augen rot und verweint. Immer wieder sah sie auf die Uhr, immer wieder blickte sie zu der Gasse, die vom Altstadtparkplatz hierher führte und auf der normalerweise ihr Lover herkam. Aber nichts geschah. Sie warteten über eine Stunde, bevor die Studentin aufgeben und gehen wollte.
„Halt!“, rief Biggy aus dem Versteck hinter den Büschen, und schubste Nobody nach vorn, „nun mach schon“ zischte sie.
[…]
Tja. Soweit der Auszug aus meiner Geschichte. Leider gibt es den wunderschönen, von Martina Bick herausgegebenen, liebevoll illustrierten Band schon seit langem nur noch antiquarisch … aber wer dort nicht fündig wird und unbedingt wissen möchte, wie es mit Nobody, Biggy und dem Lindenbaum weitergeht, kann mich gern per Mail überzeugen, die Geschichte in elektronischer Form zu versenden. Oder doch noch mal ein E-Book zu produzieren … ;-))