Letzten Donnerstag hatte ich das Glück, beim Auftakt des Festivals 638 Kilo Tanz und andere Delikatessen in der Casa dabei zu sein: Vier zeitgenössische Tanzproduktionen luden auf eine halbe Weltreise ein und kehrten zugleich auf schräge Art zu den höfischen Ursprüngen des Balletts zurück.
Dass Mandi Huos Mélange von der Peking Oper inspiriert ist, ließ sich am Tanzboden ablesen: eine schwarzweißrote Maske, hochgradig stilisiert wie ein chinesischer Löwe oder das Visier eines Kriegers wies den Weg in die Kultur des Reichs der Mitte. Fünf Tänzer – Chang-Wen Hsu, Andrés Garcia Martinez, Blanca Noguerol Ramirez, Julian Stierle und Tsai Wei Tien, die beiden Herren auffällig lang und groß, die drei Damen überaus klein und zart – entführten in eine fremde Welt, nicht lesbar für den Uneingeweihten. Was war Kampf, was Begegnung, was gar Liebeswerben? Tanzten hier Menschen, Fabelwesen, Götter? Chinesische Literatur hätte ich vielleicht einzuordnen verstanden, Malerei in Ansätzen interpretieren können. Mit der Peking Oper jedoch habe ich mich noch nie beschäftigt. Allerdings ist das eine der wunderbaren Seiten am Tanz: Man muss ihn nicht mit dem Kopf begreifen und das (vermeintlich) Verstandene, Interpretierte dann in Sprache übersetzen. Es genügt, sich auf das Erleben einzulassen und zu schauen, wohin das führt.
Darwin Diaz‘ The Circle begann genau damit: einem Kreis, der dadurch entsteht, dass ihn erst eine Tänzerin (Elisa Marshall), dann ein Tänzer (Sergey Zhukov) abgeht. Erst einzeln, dann zu zweit, gehen, schreiten, rennen sie schließlich immer schneller. Blicke schaffen Beziehungen, zu zweit explodiert die Dynamik förmlich, und aus dem Kreis, der geometrischen Grundform und der Urbewegung des Tanzes, entsteht gewissermaßen ein kleines Universum für sich. Choreografisch durchdacht bis ins Kleinste, tänzerisch perfekt, trotz des hohen Tempos auf den Punkt gebracht und nicht ohne Humor, was will man mehr?
In Eun-Sik Parks IDream 1.0 geschieht das exakte Gegenteil: Eine Solistin (Hyun-Jin Kim) bewegt sich quälend langsam, furchtbar abgehackt über die Bühne, die sie mit nur minimal variierten Bewegungen durchmisst. Wie ein Roboter, der langsam kaputt geht, gerät sie dabei ins Stolpern und Straucheln. Sie fällt, muss sich aufrappeln und das ohne menschliche Geschmeidigkeit, gar die Hilfe der Menschlichen Hand. Die eckigen Roboterbewegungen sind gewiss eine Klasse für sich, kraftraubend allemal, und erfordern höchste Körperbeherrschung — allein, wofür? Viel zu lang zieht sich dieser Roboteralbtraum hin, ganz ohne Ziel oder Spannungsbogen. Schade. So viel Aufwand für so wenig Effekt.
Für Paul Hess‚ Totilas gelten die umgekehrten Vorzeichen und dabei geht es auf eine dem Ballett verwandte, ursprünglich höfische Kunstform, nämlich die Dressur zurück: Zum Originalkommentar des Fernsehmittschnitts einer Dressurprüfung des berühmten Totilas wird Paul Hess zu Ross und Reiter und der Tanzteppich zum sandigen Reitplatz. Der Mensch als Pferd reizt zum Lachen, aber bald weiß man nicht mehr so recht, wer hier wem den Spiegel vorhält: der Tänzer dem Dressurpferd oder das Pferd der Tanzkunst? Ist es absurder, einem Vierbeiner für gekünstelte Bewegungen in höchster Präzision zu applaudieren oder menschliche Tänzer für ihre physisch-ästhetischen Leistungen zu bewundern? Oder steckt in all dem tiefen Ernst, hinter all der Hingabe und dem Fleiß, den beides braucht, Reit- wie Tanzkunst, gar die Tragikkomik menschlichen Scheiterns? Ganz gleich, welche Antworten man sich gibt oder ob man sich überhaupt auch nur eine dieser Fragen stellt: dieses saukomische Stück zeitgenössischen Tanz muss man einfach gesehen haben.
Dennoch – die Sieger des Festivals und zwar sowohl des Jury- als auch des Publikumspreises – waren hochverdient Darwin Diaz, Elisa Marshall und Sergey Zhukov mit The Circle. 🙂