Tod auf der Schüssel

Da war doch noch was … genau, noch eine Leseprobe wollte ich hier einstellen, um Lust auf mehr und auch Lust auf die „Kriminellen Bettgeschichten“ zu machen. Allerdings ist dies keine ganz so appetitliche Geschichte, was wenig wundert, wenn man bedenkt, dass  Blaulicht 2011 in Mördchen fürs Örtchen erschien, und, ganz genau, auf einer Toilette beginnt …

Blaulicht
von Mischa Bach

Das kalte Porzellan der Kloschüssel war Saras letzte Verbindung zur Realität. Was für ein absurder Gedanke. Absurd wie der Anblick: Officer down. So hieß es in Hollywoodfilmen, wenn ein Polizeibeamter angeschossen wurde. Polizistin am Boden. Ja, das war sie. Aber nicht an- sondern nur abgeschossen. Vom verdammten Blaulicht, das angeblich so beruhigend sein sollte. Beruhigend – und Venen verbergend. Wenn das stimmte, wieso hatte die junge Frau, die nur ein paar Meter entfernt auf den Toilettenfliesen lag, eine Nadel in der Armvene? Und warum hing Sara über der Schüssel und kotzte sich die Migräneseele aus dem Leib?
Blaulicht. Natürlich. Gleich nach dem Waldorf-Abi hatte es das Blaulicht der Rettungswagen sein sollen. Nach einem Jahr als Sani reichte es ihr. Übers Nachrückverfahren kam sie ins Medizinstudium, gleich ab in die Pathologie. Die Leichen waren nicht ihr Problem, das Auswendiglernen schon.
Statt die Prüfung zu wiederholen, gar in Witten-Herdecke den anthroposophisch-ganzheitlichen Ansatz zu suchen, schrieb sie sich in Marburg in Jura ein. Ihre Eltern reagierten entsetzt – Jura war mindestens so schlimm, so abwegig, so eckig und systemtragend wie – BWL. Doch Sara wollte weg von zuhause und all den Waldis und Anthros ihrer Kindheit. Die Flucht an sich mochte richtig sein, das Fach war es nicht. Diesmal brauchte sie ein knappes Semester, um den Irrtum zu begreifen. Jura war trocken, langweilig, nur zum Auswendiglernen gut und damit alles, bloß nicht ihr Ding.
Ausgerechnet auf einem Klo hatte sie das Plakat, das sie so oft schon an U-Bahnfenstern, auf Bussen und in Bahnhöfen gesehen hatte, näher betrachtet: Die Polizei, das war es. Und weil sie nach zwei Studienabbrüchen die Schnauze von Theorie gründlich voll hatte, bewarb sie sich bei der Schutzpolizei. Zur Kripo gehen konnte sie später immer noch.
Die Aufnahmeprüfung fiel ihr leicht. Sportlich war sie auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit; sprachlich den meisten Mitbewerbern überlegen. Nicht nur wegen des Abiturs, sondern weil sie eine der wenigen Frauen im Bewerberfeld war. Da man die Schutzpolizei erst in den 80er Jahren für die weibliche Hälfte der Menschheit geöffnet hatte, war das ein Plus.
Aber nur für den Einstieg, den allerersten Anfang. Danach war sie auf sich gestellt. Gerade mal drei weitere Anwärterinnen hatten zusammen mit ihr den Eignungstest abgelegt und bestanden. Vier Frauen unter gefühlten 10.000 Männern in der Polizeikaserne. Hier herrschte überreichlich Testosteron bei gleichzeitigem Mangel an Manieren und Hygiene. Doch Sara kam besser klar als ihre Kolleginnen. Vielleicht, weil sie als „Waldi“ per se Außenseiter war. Womöglich auch, weil sie nicht wusste, was das heißen sollte – „Frausein“ – und wieso eine schlichte, biologische Tatsache von übergeordneter Bedeutung sein und ihre Identität bestimmen sollte. Als hätte es nicht gereicht, auf der Waldorfschule dank Temperamentenlehre als Melancholiker abgestempelt zu werden.
Und da war es wieder, das Blau. Blau hatten ihre Eltern ihr Zimmer gestrichen. Blau waren die meisten ihrer Kleider gewesen. Gleiches mit Gleichem bekämpfen, forderte Steiner. Den Blues der Melancholie mit Blau herausfordern, um eine Gegenreaktion zu provozieren. Das Kind dauernd mit Obst nerven, damit es den physischen Leib überwindet. Und sich dann wundern, wenn es verschlossener und wütender wird … Abgesehen von Jeansblau, dem farblichen Neutrum schlechthin, gab es nichts Blaues in ihrem Kleiderschrank. Gottseidank war die alte Uniform alles, aber nicht blau. Mochte das Grün ans Olive der Bundeswehr erinnern und das Beigebraun der Hosen etwas von „Hund hat Durchfall“ haben – alles war okay, was nicht blau war. Und das Blaulicht war nichts, das sie selbst sehen musste, sondern etwas, das man ausstrahlte, wenn man im Einsatz war.
Hatte sie gedacht und die Rechnung ohne Innenarchitekten gemacht. Was Junkies schrecken sollte, war für sie als Migränikerin das Grauen: Blaues Licht, so unmittelbar und unausweichlich, war anfallauslösend, wie sie nun, an diesem Tag des Jahres 1992, auf der Toilette der Essener Stadtbibliothek übermächtig erfuhr. Ausgerechnet ihr Schichtleiter und Streifenpartner Bammler, der sie mit dem Hinweis „Damentoilette“ vorgeschickt hatte, rettete sie. Er rief den Notarzt, der den Tod der jungen Fixerin feststellte und ihr eine Spritze gegen die Übelkeit verpasste. Er sorgte dafür, dass die Tote in die Rechtsmedizin gebracht wurde. Und dass niemand etwas von Saras peinlichem Zusammenbruch mitbekam. Nicht einmal Dank wollte er hören. Sie könne ja nichts dafür, meinte er, und es wäre kein Problem für ihn, sie fortan aus all den ‚blauen Toiletten‘, die immer mehr in Mode kamen, rauszuhalten. Arbeit für zwei hätten sie so oder so genug …
Das klang einleuchtend und verlockend zugleich, selbst wenn es in krassem Gegensatz zu Bammlers Ruf als unberechenbarem und arbeitsscheuem Einzelgänger stand. Vielleicht hatte er aus Faulheit darauf verzichtet, die Spurensicherung zu rufen und später das Handwerkerschild an der Toilettentür in seinem Bericht nicht erwähnt? Wie sicher konnte sich Sara angesichts ihrer durch Blaulicht und Migräneanfall verzerrten Wahrnehmung sein, dass der Schaum vorm Mund der toten Fixerin Marion aus Erbrochenem und Sperma bestanden hatte?

[…]

aus: Mördchen fürs Örtchen, hrsg. v. Petra Busch, kbv 2011.

Wer mehr lesen möchte, kann es hier über eine meiner Lieblingsbuchhandlungen bestellen und sich nach hause liefern lassen …

 

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