Präzise und unnahbar

Präzise und unnahbar und doch zugleich menschlich – so lässt Christa Wolf Kassandra sprechen und nach all den Jahren, all den vielen Büchern, den gelesenen und auch den paar geschriebenen, hat sich nichts, rein gar nichts an meiner offenen Bewunderung für diese Schriftstellerin und dieses ihr Werk geändert. Sie scheint mit Lust sperrig, ganz bewusst kantig, verweigert sich der einfachen Vereinnahmung. Und ich glaube fast, es ist gar nicht so wichtig, wieviel man vor dem Lesen über den Trojanischen Krieg weiß oder zu wissen glaubt.

Überhaupt ist dieses Buch – jedes Buch von C. Wolf, soweit ich sie gelesen habe – so angenehm ganz und gar kein historischer Roman. Es spielt in einer fernen Zeit. Einerseits so fern, dass sie eher zu den klassischen Sagen als auf die menschliche Zeitachse des tatsächlich Gewesenen oder zumindest vermutlich Geschehenen, gehört. Andererseits gibt es nicht den geringsten Versuch einer – wie soll ich sagen? – zeitüberbrückenden Anbiederung an die Vorstellungen der Heutigen.

Das ist ja in heutigen, normalen, ja, zumeist selbst den besten historischen Romanen wichtig – die Zeit zu überbrücken. Das Ferne, Andere, Frühere, eben Historische und jetzt so ganz und gar nicht mehr Greifbare uns heutigen Lesern nah zu bringen. Da wird recherchiert (wenn man Glück hat, sonst einfach nur andere, historische Romane gelesen) und dann der Versuch gemacht, sich selbst und den Leser gleich dazu in die andere Zeit hineinzuversetzen. Als gelte es zu sagen, wir sind doch alle Menschen, haben ähnliche Körper, Sinne, Gehirne, also müssen wir uns doch nur die andere Umgebung, die alte Technik, die Glaubenssysteme etc. pp. vorstellen, dann passt das schon. Wenn wir ernstlich und ehrlich versuchen, uns selbst ins Mittelalter/die Renaissance/den Barock oder auch das alte Rom zu denken, dann wird uns das gelingen.

Mag sein. Aber was kriegen wir dann? Genau: Den Einblick darein, wie’s gewesen wäre, wenn WIR damals gelebt hätten. Wie’s gewesen sein mag, damals und nur damals gelebt zu haben, darüber lässt sich so einfach nicht viel sagen. Und dann ist ja auch die Frage, was soll das?

Okay, ich will ja kein Spielverderber sein. Historische Romane zu lesen, das ist im Normalfall ein bisschen so, als besuche man einen Maskenball oder ein Mittelalterfest oder nehme an einem entsprechenden Rollenspiel teil. So tun als ob – Spiel eben. Nichts spricht gegen Spiel, schon gar nicht Spaß oder Freude daran. Manchmal gibt es auch den Hauch einer Zeitreise, vielleicht ist man in einem ganz besonders guten, cleveren historischen Museum gelandet? Und natürlich, literarisch kann das so banal oder so gelungen wie jedes andere Genre geschrieben sein.

Aber das mein ich ja alles gar nicht und das ist eine Riesenabschweifung entfernt von meinem Wiederlesen von Christa Wolfs Kassandra. Dass dieses Buch vor langer, langer Zeit an der Grenze zwischen Frühgeschichte und Menschheitsmythos angesiedelt ist, ist ja nur das eine. Das ist eben so. Da gehört diese Figur Kassandra hin. Aber den Moment, den C. Wolf wählt – den Moment des Erzählens auf die letzten Augenblicke der Seherin zu verlegen, den Versuch dieser Frau zu zeigen, sich vor dem Tod ans Leben ganz bewusst zu erinnern, sich allem, dem Schönen, aber vor allem dem Falschen und dem Schmerz zu stellen – das ist kühn. Das macht den großen Wurf aus – wir werden nicht ‚mitgenommen ins alte Troja‘, wir stehen die ganze Zeit mit Kassandra vor Agamemnons Burg und zugleich an der Schwelle des Todes. Den Punkt werden wir alle eines Tages erreichen. Aber dahin mitgenommen werden, das ist unbehaglich, kein Maskenball, kein Kostümfest, kein Mittelaltermarkt – kein Spiel. Das hier ist literarischer Ernst.

Und so sehr Unterhaltung auch in der Literatur ihre Berechtigung hat, manchmal ist Ernst geboten. Und nur allzu selten zu finden. So oder so: Ich wünschte mir die Unbestechlichkeit, die sich Kassandra im Lauf ihres Lebens erwirbt. Und die sprachliche Präzision, den erzählerischen Mut von Christa Wolf.

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