Ungewohnte Lektüre

Sogyal Rinpoches Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben zu lesen, war über weite Strecken mehr eine Begegnung mit einer anderen Kultur als die Lektüre eines Buches. Eine große Anziehungskraft geht von diesem Werk aus, in das ich mich anfänglich regelrecht verliebte (bei einem Buch und diesem Thema eine ebenso unerwartete wie ungewohnte Erfahrung), bevor mich manches befremdete und ich es am Ende voller Respekt aus der Hand legte.

Dass „wir im Westen“ Tod und Sterben verdrängen, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Ich wundere mich immer wieder über mich selber, dass ich einerseits von Kindesbeinen an eine morbide Ader hatte und mich beruflich überwiegend mit dem (gewaltsamen) Tod beschäftige, ich andererseits das Gefühl habe, alles andere als ausreichend auf Vergänglichkeit, eben das Sterben vorbereitet zu sein. Sogyal Rinpoches Wunsch, mehr Menschen besser auf Leben und  Tod vorzubereiten, und mehr Menschen, am liebsten allen, so etwas wie einen friedlichen, (nicht nur in buddistischen Sinne) guten Tod zu ermöglichen, macht also für mich jede Menge Sinn.

In seinem Buch schildert er beides, Leben und Sterben, aus buddhistischer bzw. tibetisch-buddhistischer Sicht nicht nur theoretisch und in traditionellen Erzählungen, sondern gibt auch immer wieder Anweisungen und Anregungen für Meditationen und Übungen. Schwierig oder auch befremdlich finde ich allerdings, dass darunter Übungen sind, die er mehrfach mit dem Hinweis, sie seien nur mit einem erfahrenen Meister durchzuführen, vorstellt. Es erscheint mir jedenfalls eher sinnlos, auf Praktiken hinzuweisen, die für den größten Teil des angestrebten Publikums (er schreibt für die Menschen im Westen, für die Menschen von heute, in den Städten der globalisierten Welt) nahezu unmöglich umzusetzen sein dürften. Denn woher sollen all die erfahrenen tibetischen Meister kommen? Und was würde geschehen, würden sich westliche Menschen massenhaft um Rat und Hilfe an sie wenden?

Ähnlich ratlos ließen mich verschiedene Vorstellungen von dem, was aus tibetisch-buddhistischer Sicht zwischen Tod und Wiedergeburt passiert, zurück. Gewiss kann man die Auflösungsprozesse und selbst das Bardo des Werdens als symbolische oder auch metaphorische Beschreibungen lesen – aber ich denke nicht, dass sie so gemeint sind bzw. der Autor sie so verstanden wissen will. Nur – was mache ich damit? Zumal Sogyal Rinpoche einerseits immer wieder darauf hinweist, dass es gar nicht nötig sei, sich von anderen Religionen abzuwenden (also man sich in bestimmten Praktiken schlicht an eine höhere, inspirierende Macht wendet – und ob diese dann ein konkreter Buddha, die Jungfrau Maria, Shiva, oder ein anderer Gott ist, ist nicht entscheidend), andererseits aber z.B. die Vorgänge nach dem Tod so beschreibt, als seien sie nichts als Fakten.

Während mich also die liebevolle Grundhaltung des Autors und sein Anliegen anzog, sozusagen dazu führte, dass ich mich in das Buch verliebte, erzeugten diese anderen Aspekte ein gewisses Befremden. Aber am Ende überwiegt für mich bei weitem der Respekt für die Mission dieses Mannes, seinen tiefen Glauben und die Brücken zwischen den Kulturen und Religionen, die sein Buch schlägt.

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