Wo gerade Jarg der Floppy Disk nachtrauert, fällt mir auf, ich habe ja noch gar keine Leseprobe von Rattes Gift, meinem dritten Kriminalroman, der 2009 bei Leda erschien, hier ins Blog gestellt. Das hole ich hiermit mit ein paar Seiten aus dem ersten Kapitel nach. Viel Spaß beim Lesen …
Januar oder der Eingang ins Labyrinth
Der klapprige VW-Bus war am JuZ an der Friesenstraße vorbeigefahren, ohne anzuhalten. Auch am Bahnhof, wo an diesem schmuddeligen Januarabend kaum mehr was los war, hatte er seine Fahrt nicht verlangsamt. Im Industriegebiet an der Nesse, dort, wo die großen, grauen Hallen den Blick auf den Hafen verstellten, stoppte das mit dem Anarchie- und anderen, szenetypischen Punkzeichen besprühte Gefährt immerhin für die Länge einer selbstgedrehten Zigarette, bevor es zögernd die beinahe großstädtische Kulisse mitten im friesischen Leer wieder verließ. Wundervoll hässliche Betonflächen nützten nichts, wenn sie niemand – außer den verbliebenen Arbeitern – ansah. Damit waren sie so unbrauchbar wie all die sauberen Eigenheime, die schmucken Backsteinbauten, eben die ganze verfluchte Friesenidylle. Also war der Bulli immer weitergefahren, bis er schließlich das Nichts hinter Tennisanlage und Schrebergärten erreichte. Leer und verlassen stand er nun da, während seine Insassen – ein dünner, junger Mann in zerfetzter Jeans, bemalter Lederjacke und ausgelatschten Docs, und eine undefinierbare Promenadenmischung, die nur auffiel, weil sie im Gegensatz zu allen andern punkerbegleitenden Vierbeinern Leers schmutzbraun statt nachtschwarz war – ein paar Straßenecken weiter nahe der Fetenscheune auf ihre Art beschäftigt waren.
Hier gab es keine Idylle, das hätte auch nicht zum ‚harten‘ Ruf der derzeit angesagtesten Diskothek der Stadt gepasst: ein rechteckiger Kasten, der dank Farbgebung und Elchkopf im Comicdesign eher an ein schwedisches Möbellager denn eine Scheune erinnerte, drumherum Parkplätze, gesichert mit flutlichtbewehrtem, übermannshohem Stahlzaun, der einem Kriegsgefangenenlager alle Ehre gemacht hätte. Dennoch strömten jedes Wochenende die Besucher in Scharen hierher. Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters. Für Ratte war die leere Wand nahe der Fetenscheuneeine riesige Leinwand und Lusche, sein Hund, hätte auf feinsten Kissen nicht besser geruht als auf seines Herrchen altem Rucksack am Rand der Straße. Ratte war ganz in seine Spray-Arbeit versunken. Schritt für Schritt, Farbe für Farbe, Schicht für Schicht entstand der Schriftzug der Punkband Rotzgeier, dazu das Logo eines Indie-Festivals bei Wilhelmshaven und – aber gerade, als er zur nächsten Zeile des Schriftzugs ansetzen wollte, bellte Lusche einmal leise. Ratte steckte die Spraydose in die Jacke und zog den Reißverschluss hoch. Ohne hinzusehen, nahm er Lusche den Rucksack ab, den der ihm schwanzwedelnd präsentierte. Zwei, drei Schritte zur Seite, und die beiden waren im Dunkel eines Mauervorsprungs verschwunden. Die Straße lag leer, scheinbar verwaist.
Erst jetzt hätte ein menschlicher Beobachter das Auto hören und sehen können, das sich der Straße mit der großen, nun nicht mehr ganz so leeren Wand näherte. Ein paar Meter weiter bog es auf den nicht mal halb gefüllten Parkplatz der Fetenscheune ein. Das Licht ging aus, das Motorengeräusch erstarb, und alle vier Türen des etwas angejahrten Wagens flogen auf. Zwei Pärchen stiegen aus, lachend, nichts ahnend, weder das Graffiti noch sonst etwas in ihrer Umgebung weiter beachtend. Nein, die vier hatten nur Augen füreinander und für den kurzen Weg zur Diskothek.
Charlies Augen dagegen klebten am Bildschirm ihres Laptops, das im Hinterzimmer des Toutes Francaises so deplatziert wirkte wie sie selbst: Mit ihrem edlen Kaschmirpulli und der teuren Lederjacke passte sie wahrlich nicht zum abgenutzten Linoeleumboden, dem alten Holzschreibtisch, dessen Kanten durch jahrelange Abnutzung abgerundet waren, sowie den Aktenschränken aus schlecht furniertem Sperrholz unbestimmter Farbe. Angesichts all dieser Überreste aus den 50er und 60er Jahren wirkte der klobige Bürorechner, mit dem Charlies Laptop per Netzwerkkabel verbunden war, geradezu wie ein Ausbund an Modernität – und das, obwohl das Ding sicher eine ganze Weile vor der Jahrtausendwende zusammengeschraubt worden war. Charlie war froh, unter den Kabeln, die Kara ihr mitgegeben hatte, passende gefunden zu haben, mit denen sich wenigstens eine erste, sozusagen oberflächliche Verbindung zwischen den beiden Geräten herstellen ließ. Ob diese reichen würde, ob sie so an das rankäme, was sie alle so dringend suchten, konnte sie noch nicht sagen. Wirre Datenketten rauschten über den Bildschirm des Laptops, und das einzig Lesbare darunter war immer wieder nur Data String not found.
Charlie seufzte. Das konnte dauern. Musik wäre jetzt gut, eine italienische Oper oder etwas moderneres, vielleicht französische Chansons von Patricia Kaas. Ganz automatisch griff sie nach ihrer Jacke, um ihren geliebten CD-Player hervorzuziehen. Sie mochte weder IPods noch sonstige MP3-Player, hässliche, winzige Plastikteile, die sie an den Insulin-Pen ihrer Mutter erinnerten. Musik war mehr als ein Haufen Daten, die man sich irgendwo herunterlud. Natürlich wusste Charlie, dass ihre geliebten Klangwelten auf den Silberscheiben auch nur aus den allfälligen Einsen und Nullen bestanden, aus denen heutzutage alles zu bestehen schien, das nicht reine Materie war. Dennoch – CDs konnte man anfassen, sie waren reale Objekte, man konnte sie sammeln und sehen, sie aufbewahren und archivieren. Jedenfalls theoretisch. Praktisch war das gerade unmöglich, denn in ihrer Lederjacke war nichts: Stimmt, der CD-Player hatte, wie die CDs, in ihrem weißen Golf bleiben müssen. Keine USB-Sticks, keine CD- oder DVD-Brenner, kein WLAN, darauf hatte ihr Auftraggeber Torben bestanden. Sie sollte ihm Zugang zu den Daten verschaffen, die bislang den reibungslosen Ablauf aller Geschäfte von Toutes Francaises – Französisches für Friesland, Friesisches für Frankreich garantiert hatten, ohne diese Daten zu kopieren, zu stehlen, weiterzuverkaufen oder dergleichen. Um das zu gewährleisten, hielt er sich so weit wie möglich an das Credo des verstorbenen Buchhalters und Computerexperten der Firma, der stets darauf bestanden hatte, Vernetzung sei etwas für Spinnen und Spinner, nicht aber für Export-/Import-Geschäfte, bei denen es um weit berauschenderes als Foie gras, Champagnertrüffel und Bordeaux der Extraklasse ging.
Tja, und so saß Charlie nun hier, in dem schäbigen Büro, vor dem Uraltrechner des Drogenrings und dem Laptop, das Kara zwar nach Torbens Anforderungen abgespeckt, doch zugleich entsprechend der Ziele der dahinterliegenden LKA-Ermittlung aufgemotzt hatte. Nur an Musik für Charlie hatte sie nicht gedacht. Also konnte sie nichts tun, als ab und zu nach Programmaufforderung Enter zu drücken, dem Rattern der Laufwerke zu lauschen und wieder und wieder Data string not found zu lesen …
Die beiden Pärchen fanden nach kurzer Diskussion mit dem Türsteher, was sie suchten, nämlich Einlass in die Fetenscheune. Einen Moment lang brandete die Tanzmucke lauthals in die Nacht, dann fiel die Tür hinter ihnen zu. Ratte atmete auf und trat aus dem schwarzen Schatten seines Verstecks an der Mauer. Er blickte zum Wagen, mit dem die vier gekommen waren – der war alt genug, deren Eltern gehört zu haben, und damit zu alt für funkgesteuerte Zentralverriegelung und anderen technischen Schnickschnack. Interessiert näherte sich der junge Mann dem Auto, das ganz am Rand des Parkplatzes stand. Ein Blick ins Innere, ein Blick auf die Umgebung, zugleich den großen Schraubenzieher aus der anderen Jackentasche gezogen und angesetzt. Ein kurzer, gezielter Schlag und das Schloss der Beifahrertür hatte es hinter sich. Ratte stand einen Augenblick still und lauschte. Nichts zu hören außer den gedämpft wummernden Bässen der Diskothek. Niemand zu sehen. Also öffnete er die Tür und stieg ein. Wieder kam der Schraubenzieher zum Einsatz, wieder dauerte es nur Sekunden, dann war auch dieses Werk getan. Noch eben die CD aus dem Schacht des Radio/CD-Players gezogen – eine selbstgebrannte Musikscheibe – und auf den hinteren Sitz geworfen, ausgestiegen, die Tür geschlossen, das war’s. Oder war es doch fast, denn nachdem Ratte seine Beute im Rucksack verstaut hatte, fiel sein Blick wieder auf die Wand mit dem halbfertigen Graffiti. Da war noch was zu erledigen, denn ohne Datum nützte der Name des Festivals unter dem der Punkband so gut wie nichts. Als sei nichts geschehen, legte Ratte den Rucksack wieder hin und Lusche nahm seinen Platz ein, während sein Herrchen zur Spraydose griff.
Charlie streckte sich beim Fenster des Büros und unterdrückte ein Gähnen. Stundenlange Konzentration am Rechner hatte ihren Preis, dachte sie, und rieb sich den Nacken, während sie einen Blick nach draußen warf. Vom Emspark, dem Einkaufsparadies auf der anderen Seite der Nüttermoorer Straße, blinkte es rhythmisch-bunt herüber, doch bei geschlossenen Fenstern blieb die Karaoke-Version des Fetenklassikers I will survive nahezu vollständig außer Hörweite. Charlie streckte sich erneut, fast schon gelangweilt, als sie plötzlich innehielt, weil sie etwas im Augenwinkel sah: Etwas hatte sich auf dem Display verändert! Sie stürzte zum Rechner und bemerkte kaum, dass im selben Augenblick die Tür zum Büro geöffnet wurde. Ein schlanker, großer Mann, gutaussehend, wenn man auf Solariumsbräune und regelmäßiges Kraft- und Ausdauertraining stand, kam mit einer bauchigen Milchkaffeetasse herein. Torben konnte durchaus charmant sein, wenn er wollte oder es für nötig befand.
„Wow“, sagte Charlie, und drehte sich nun doch zu dem Mann um, „ein Auftritt wie aufs Stichwort.“ Sie deutete aufs Display: Das Suchprogramm hatte angehalten, blinkend verwies es auf seinen Fund: ‚sauber.*‘ blinkte es dort. Dahinter stand unterlegt der Pfad zu einer versteckten Datei.
„Heißt das, wir kommen der Sache näher?“ Torben stellte die Tasse neben dem Laptop ab. Sie nickte und lächelte, war aber schon wieder ganz bei der Arbeit. Sie rief ein Decryptoprogramm auf und gab den Pfad ein, den das Suchprogramm ausgeworfen hatte. Mehrere Fenster öffneten sich nahezu gleichzeitig, durch die in rasendem Tempo Hexadezimalzahlen rauschten. Charlie griff nach der Kaffeetasse und lehnte sich zufrieden zurück. So übel lief es doch gar nicht. Kara hatte recht und Hagen unrecht gehabt: Sie war nicht die schlechteste Besetzung für die Rolle der Computerexpertin gewesen.
„Danke für den Kaffee, Torben“, sagte sie und bemerkte im selben Augenblick, sie war schon wieder allein in dem schäbigen, kleinen Büro. War vielleicht auch besser so.
Ratte war ebenfalls zufrieden mit seiner Arbeit. Er stopfte die Spraydosen in seinen Rucksack und trat ein paar Schritte von der Wand zurück. Lusche tänzelte schwanzwedelnd um ihn herum. Plötzlich schob sich ein roter Polo ausgerechnet hier an den Straßenrand und rollte fast über Rattes Füße, der einen Satz nach hinten machte.
„Idioten“, zischte er und schulterte den Rucksack. Dem Wagen entstiegen zwei Männer, jung, ungefähr in seinem Alter, aber definitiv besser gekleidet, besser genährt und auch ganz sicher besser drauf.
„Pass doch auf, Penner“, motzte ihn der Beifahrer an.
Doch dessen Begleiter zog ihn weg. „Lohnt nicht“, meinte der Fahrer nur, und schloss den Wagen ab.
Ratte ließ die beiden nicht aus den Augen, die erst provozierend beziehungsweise misstrauisch zu ihm herüberblickten, bevor sie ihm den Rücken zuwandten und überbetont lässig Richtung Fetenscheune abzogen. War wohl noch zu früh für eine der berühmt-berüchtigten Parkplatzschlägereien, die den Ruf der Discothek entschieden mitprägten.
Lusche knurrte, wurde jedoch auf Rattes Handzeichen sofort still und setzte sich, wobei er die beiden im Visier behielt. Sein Herrchen warf derweil einen Blick Richtung Polo: Pech gehabt, hier blinkte es nicht nur rot, als gäbe es eine Alarmanlage, nein, das Bedienfeld des Radios und/oder CD-Players war abmontiert. Auch sonst lag nichts im Wagen, das irgendeinen Aufwand, irgendein Risiko wert gewesen wäre. Ratte gab Lusche ein weiteres Zeichen. Dann zogen sie gemeinsam ab, weg von der Diskothek, rüber zu den Schrebergärten, wo der Bulli im Dunkel auf sie wartete.
Immer noch flirrten und flackerten lange Reihen wirrer Hexadezimalzahlen über den Bildschirm des Laptops. Die große Milchkaffeetasse war längst leer. Charlie rieb sich die Augen, griff sich in den Nacken, schaute auf die Uhr. Es gab hier nichts zu tun, der Rechner kam prima ohne ihre Aufsicht klar. Sie musste mal raus aus diesem Büro, sonst würde sie noch verrückt und ihre Blase würde platzen. Das müssten selbst ihre Auftraggeber verstehen.
Das Büro lag im ersten Stock des Lagerhauses, der so etwas wie eine das ganze Gebäude umlaufende Galerie war. Zur Außenseite hin lagen verschiedene Büros; in der Mitte konnte man hinunter in die Halle selbst blicken. Dort unten im Erdgeschoss herrschte zu dieser späten Stunde höchst geschäftiges Treiben. Mehrere Lieferwagen mit der Aufschrift Toutes Francaises wurden zur Zeit beladen. Charlie nahm davon kaum Notiz, wie sie auch die Aktivitäten in den beiden hellerleuchteten ‚Glaskästen‘ auf der ihrem Büro gegenüberliegenden Seite der Galerie zu ignorieren versuchte. In dem einen wurde Heroin und Kokain verschnitten, um sogleich in Dosen verpackt mit den Paletten echter oder zumindest legaler französischer Spezialitäten unten im Erdgeschoss verladen zu werden. Das andere ‚Aquarium‘ war das Büro des Chefs. Torben stand dort mit einem Mann mittleren Alters, den Charlie hier noch nie gesehen hatte – und den sie auch jetzt nicht wirklich in Augenschein nehmen konnte, weil er der Glaswand und damit ihr den Rücken zuwandte. Er war wütend, wie seine Gestik zeigte. Torben sagte etwas, doch auf dem Gang war nichts zu hören, und die Kunst des Lippenlesens gehörte leider nicht zu Charlies Spezialgebieten. Die der Verstellung schon: Sie nickte Torben, der sie in diesem im Moment entdeckte, freundlich zu und ging weiter, rasch, wie man halt als Frau zur Toilette ging. Der andere Mann im Glaskasten reagierte ebenfalls sofort und machte einen Schritt zur Seite, so dass ihn ein Schrank gänzlich der Sicht vom Umgang aus entzog. Es war gar nicht nötig, dass Torben nun seinem scheuen Besucher zuliebe obendrein die Lamellenjalousie zuzog. Schade, aber man konnte nicht immer Glück haben in diesem Geschäft, dachte Charlie, und betrat die Damentoilette.
Ratte war gedanklich schon auf dem Heimweg, als er bei einer roten Ampel etwas so abgefahrenes entdeckte, dass er gar nicht anders konnte, als zum Emspark zu fahren: Wer außer Mr. JJ wäre auf die Idee gekommen, die trocken-protestantischen Friesen mit einem Karaoke-Fest auf die kommende Karnevalssaison einzustimmen? Das jedenfalls stand auf dem Plakat am Straßenrand – heute Abend, mitten im hässlichsten Januarwetter, hatte der das Karaoke-Zelt auf dem Parkplatz des Emsparks aufstellen lassen und seine Leeraner Mitbürger zum „ausgelassenen Mitfeiern“ aufgerufen. Ob das gut gehen würde? Seit Mr. JJ alias Jamal Janned der Liebe wegen aus Kenia nach Ostfriesland gezogen war, sprühte der selbsternannte Geschäftsmann nur so vor Ideen, doch häufig scheiterte er an der Ausführung. Mal vergaß er, sich für irgendeine Open-Air-Veranstaltung die erforderliche Genehmigung bei der Stadt zu holen, dann wieder fehlten die mobilen Toiletten, das Wetter spielte nicht mit oder aber er schätzte den friesischen Geschmack falsch ein. Letzteres schien heute Abend nicht das Problem, denn als Ratte mit dem Bulli auf die Nüttermoorer Straße einbog, war der Parkplatz des Emsparks proppenvoll. Rund ums Zelt war jeder Meter zugeparkt und der Lautstärke nach zu urteilen, gröhlte grad ein kompletter Damenkegelklub YMCA mit. Das klang schräg, aber auch so, als sei es die perfekte Ablenkung für Rattes abendliche Arbeiten. Also setzte er den Blinker und fuhr in das kleine, dem Emspark gegenüberliegende Industrie- und Gewerbegebiet am Nüttermoorer Sieltief, das knapp ein Dutzend Betriebe, darunter einen Steinmetz, eine Schreinerei, einen Auto- und einen Motorradhandel sowie einige Lagerhallen und Büros beherbergte. In der hintersten Ecke, knapp vorm namensgebenden Sieltief, stellte Ratte den Bulli in einer unbeleuchteten, erst halb fertigen, weiteren Lagerhalle ab und stieg samt Hund und Rucksack aus. Während das Tier mit der Nase am Boden die Gegend erkundete, schaute sein Herrchen sich nach einer neuen ‚Leinwand‘ um. Der einstmals weiße Putz des Toutes Francaises, das sich damit von den umgebenden Backsteinbauten abhob, war durchaus verlockend, doch Ratte würdigte die Import-/Exportfirma keines zweiten Blickes. Ein paar Schritte weiter hatte der Steinmetz sein Gelände mit einer fast mannshohen Mauer umgeben. Jungfäulich hellgrau schimmerte diese, als hätte man sie eben erst verputzt – oder wenigsten reinigen lassen. Irgendwas musste hier geplant sein, denn die Lagerhalle der Schreinerei auf der gegenüberliegenden Seite war über und über mit Graffiti unterschiedlichen Alters bedeckt. Rattes Werk dagegen hätte die Wand für sich, zumindest anfänglich. Das war der Traum jeden Sprayers.
Doch zuerst musste er sich die drei Autos anschauen, die bei der Laterne parkten: In den ersten beiden waren die Radioschächte leer, und im dritten, einem weißen Golf, gab es nur ein Billigstgerät. Ratte wollte sich schon abwenden, als er stutzte und einen zweiten Blick riskierte: Im Kassettenschacht des Radios steckte eine Kassette, aus der ein Kabel hing. Ein zweites Kabel zur Stromversorgung war in den Zigarettenanzünder eingestöpselt. Das ließ nur einen Schluss zu, was das nachlässig über die Mittelkonsole geworfene Tuch in dem ansonsten penibel aufgeräumten Wagen zu bedeuten hatte …! Ratte setzte den Rucksack ab und griff zum Schraubenzieher. Im Handumdrehen stand die Tür offen. Er hob das Tuch – Seide, ganz zart, es roch nach einer Frau, fand er, bevor er es zur Seite legte. Darunter kam ein CD-Walkman zum Vorschein, der mittels des Kabelsalats im Radio-/Kassettenteil als Auto-Hifi-Anlage diente. Der Walkman war mit einem Bild bedruckt; es konnte gut und gerne ein Sammlerobjekt sein. Ratte ließ es in den Rucksack gleiten und griff nach den Kabeln, um das Zubehör einzusammeln, als Lusche anschlug. Verdammt, was … – Er schaute auf und sah, wie an der entfernteren Straßenecke ein Streifenwagen einparkte und zwei Beamte ausstiegen, die sich zu Fuß vorsichtig dem Golf näherten. Ratte schaute einen Augenblick zu den beiden Männern rüber, während seine Hände gekonnt den Rucksack schlossen, dann stieg er aus.
„Moin“, sagte er, als sei nichts. Ruhig sollte seine Bewegungen wirken, selbstverständlich. Einen Augenblick lang schien es, als gelänge der Bluff. Dann merkte er, wohin die Polizisten starrten – er hatte den Schraubenzieher noch in der Hand! Er drehte sich um, rannte los, den Rucksack halb über die linke Schulter geworfen, den Schraubenzieher noch immer in der rechten Hand.
„Hey! Halt! Stehen bleiben, sofort stehen bleiben!“, brüllte der eine Polizist, während sein Kollege zum Streifenwagen zurücklief. Ratte hielt sich nicht damit auf, einen Blick über seine Schulter zu riskieren. Dass Lusche an seiner Seite war, wie immer, wusste er auch so.
aus: Mischa Bach: Rattes Gift, Kriminalroman, Leda-Verlag 2009.
Achtung: Die Originalausgabe des Romans ist längst vergriffen, so dass man ihn auf Papier nur noch gebraucht z.B. übers ZVAB oder Amazon besorgen kann. Aber als E-Book gibt es ihn hier bei Saga-Egmont.