Wenn Sie beim Krimi nur interessiert, wer’s war und bestenfalls noch auf die (Ermittlungs)Technik schauen, ist Der Kameramörder von Thomas Glavinic vermutlich nichts für sie. Aber wenn Sie von Kriminalliteratur mehr erwarten als spannende Unterhaltung und "er ist ein Soziopath/Psychopath/verrückt" nicht für eine sinnvolle Erklärung halten, sieht das schon anders aus. Meine Gedanken dazu sollten Sie allerdings nur lesen, wenn Sie die Frage nach dem Whodunnit garantiert nicht interessiert bzw. die Antwort nicht vom Roman abhält …
… denn ohne darauf einzugehen, dass der Erzähler der Mörder ist, kann ich über das Buch nicht schreiben.
Okay, gegeben hat’s das auch schon, dass der Ich-Erzähler sich am Ende als Mörder rausstellt. Zuerst oder doch erstmalig in großem Stil, fürs große Publikum bei Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd. Während Christies Buch ein klassischer Whodunnit mit einem je nach Geschmack genialen oder auch unfairen Twist ist – also ein Krimi, der ganz normal als Rätselkrimi, eben als spannende Mörderjagd erzählt wird -, kommt Glavinics Buch zugleich leiser, perfider und letztlich auch profunder daher.
Leiser – weil es auf eine Art geschrieben ist, die es dem Leser schwer macht, das Buch zu lesen. Es gibt keine Kapitel und nicht mal Absätze. Man kann sich nicht ausruhen beim Lesen, kann das Buch nicht mal eben zur Seite legen, zur Toilette marschieren und gewiss sein, man findet den Einstieg einfach so wieder. Und, mehr noch: "Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben" heißt der erste Satz und der Erzähler nimmt das wörtlich. Er schildert in allen Details das Osterwochenende, an dem der Kameramörder, der zwei Kinder auf perfide Art am Karfreitag tötete, von Polizei, Bevölkerung aber vor allem den Medien gejagt wird, in allen Einzelheiten aus Sicht eines Mannes, der mit seiner Lebensgefährtin ein befreundetes Paar in der Steiermark nahe des Tatorts besucht. Einzelheiten schließt dabei die Spielstände beim Federball und Tischtennis ebenso wie die Speisefolgen und ähnlich alltägliches mit ein, das man so nie in einem Kriminalroman vermuten würde.
Alltag trifft auf mörderische Manipulation – der Kameramörder tötet nicht selbst, er zwingt die Kinder, sich selbst zu töten – bricht sich in der medialen Darstellung und der Diskussion über deren Moral ebenso wie über den Un-Menschen hinter der unfassbaren Tat. Und geschildert wird das ganze in einer ganz seltsamen Berichtssprache, unbeholfen und zugleich oft um Neutraliät aber auch besondere Wortwahl bemüht: "Lautes Geheul war die Resonanz." – so beschreibt der Erzähler z.B. die Reaktion eines der Kinder, als der Mörder mit der Kamera sich nicht bestechen, sie nicht gehen lassen will. Aber wer beschreibt hier was? Der Erzähler sitzt mit den andern drei Erwachsenen zwei Tage später vorm Fernseher und sieht die Ausstrahlung des gefundenen Videos der Morde auf einem Privatsender, das ist der Kontext der Beschreibung. Aber zugleich ist er ja der Mörder hinter der Kamera oder war es doch, selbst wenn es der Leser an der Stelle vielleicht noch nicht ahnt. Ist der Mörder so distanziert, dass er sich quasi nur noch in oberlehrerhaftem Polizeiberichtston der teilnahmslosen Art äußern kann, hat er selbst nie begriffen, was er tat und warum, oder ist die Distanz die Haltung des Erzählers?
Etwas lähmendes und beklemmendes geht von dieser besonderen Erzählhaltung und -weise aus. Obwohl der Erzähler sich alle Mühe gibt, ausschließlich zu berichten, die Ereignisse wie von außen abzubilden, kann man das Buch kaum aus der Hand legen. Und obwohl mir irgendwann kurz nach der Mitte des Buches klar wurde, der Erzähler muss der Täter sein, das ist die einzig vernünftige Erklärung für diesen Berichtston, hat das nichts an der eigenartigen Spannung geändert. Dass dies dem Autor in so einer Konsequenz gelingt, das ist ungefähr so perfide wie die mörderische Manipulation der Kinder …
Bleibt mein altmodisches Wort profund.
"Der kommandierende Polizist erklärte mich für verhaftet. Ich sei beschuldigt, 2 Kinder ermordet zu haben. Ich leugne nicht."
So endet das Buch und es erklärt rein gar nichts. Es bestätigt nur, was man weiß – dass und wie der Mann, der Erzähler, dem man als Leser über 157 Seiten durch ein Osterwochenende folgte, die beiden Kinder in den Tod trieb. Warum er das tat, was ihn antrieb, was er, der doch von seinen Opfern alles bis ins genaueste wissen wollte, dabei fühlte – Fehlanzeige. Kein Kommentar. Und wir Leser saßen in seinem Kopf und ahnten es nicht. Jedenfalls nicht, bis es zu spät war.
Und das ist nur die Oberfläche, denn das Buch erinnert an tiefschwarzen, hochlänzend polierten Obsidian, der das Bild des Betrachters düster und zugleich brillant zurückwirft, aber nichts, rein gar nichts von sich selbst preisgibt.
Endlich mal ein Buch, das mich als Leserin wie als Autorin überzeugt, beeindruckt, atemlos macht und in der Beklemmung, die es auslöst, auch gleich noch die Erzählforscherin, Literatur- und Filmwissenschaftlerin weckt …
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