Ich geb’s ja zu: Klassisches Ballett, mit rosa Tutu, weißem Gepuschel im Haar, elegischen Schwänen und anderem, melodramatischem Getue liegt mir ganz und gar nicht. Als ich noch tanzte, war das Klassische schlicht die Pflicht, die Trainingsbasis, wenn man so will. Jetzt, wo ich nurmehr zuschaue, brauche ich das wahrlich nicht mehr. Gerade deshalb war’s hochinteressant, gestern im Ringlokschuppen in Mülheim Doris Uhlichs Spitze anzuschauen.
Am Anfang starren die auf der Bühne die im Publikum an – eine gealterte Primaballerina (Susanne Kirnbauer-Bundy), ein Solotänzer (Harald Baluch), auch schon ein wenig älter, und eine junge Frau, deren Körper so gar nicht dem Bild der Ballerina (klassisch, modern oder sonstwie) entsprich. Dabei ist sie, die zuückgenommenste Figur auf der Bühne, zugleich die wichtigste, nämlich die Choreografin Doris Uhlich.
Anstarren. Tanzzoo, Theaterausstellung, Menschenbetrachtung, sehr merkwürdig. Immerhin sind die ersten vier Reihen halbwegs besetzt, dachte ich, und vermisste die Musik nur einen Moment lang, als mein Bauch unbedingt mitreden wollte.
Ballett ohne Musik, der Tanz befreit vom Zwang des fremden Klangs, nach so etwas hat seinerzeit Nijinsky gesucht und sich unversehens im Wahn gefunden (wobei ich nicht mal weiß, bestand zwischen diesen beiden Aspekten ein Zusammenhang). Hier ist es das Ballett – oder doch wenigstens eine landläufige Vorstellung von klassisch-romantischem Ballett -, das auf dem Seziertisch landet.
Oder ist es doch etwas ganz anderes? Es ist ja auch das Ergebnis von Doris Uhlichs Versuch, sich als 30jährige Tänzerin der modernen Art der hohen, wenngleich gelegentlich antiquiert wirkenden Kunst der "Spitze" anzunähern. Ein Selbstversuch? Eine Selbstbeobachtung? Und das Publikum sein eigener Spiegel? Schwierig zu sagen, aber um so spannender zu erleben.
Als ob man Tänzern beim Denken übern Tanz zuschaut, ihnen womöglich ihnen die erinnerten Erfolge folgt oder eine tanzende Katze im Traum betrachtet – solche Assoziationen drängten sich auf. Lernen andere Tänzer so Choreografien, Schrittfolgen? Wie soll man das wissen, als Zuschauer, der ja sonst nur das fertige, auf Hochglanz und Pathos getrimmte Illusionsprodukt zu sehen bekommt …?
In Österreich wurde Doris Uhlichs Arbeit hochgelobt, gilt als Erfolg. Schade, dass gestern nicht mehr Menschen nach Mülheim fanden. Nun ja. Ballett ist eh so eine Sache und ganz gewiss nicht jedermanns … schon gar nicht, wenn’s, wie Spitze, die Klasse für Fortgeschrittene ist.
Ballett für Fortgeschrittene
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