So zart wie eine Schneeflocke, so zerbrechlich wie ein Eiskristall, so kleinteilig auch kommt Verena Liebers Roman Das Schattenmädchen über weite Strecken daher. Doch auch wirklich gekonnter Umgang mit Sprache ist nicht alles, was es für einen guten Roman braucht. Schon gar nicht, wenn’s um ein so heikles Thema wie Multiple Persönlichkeiten geht.
Dabei weiß Verena Liebers, wovon sie da schreibt. Sie hätte nicht mal das gelehrt-bewundernde Nachwort von Dr. med. Dr. paed. D. Heitele gebraucht. Zumal der genauso überaus bemüht um eine balancierte, ja bitte nicht verzerrende, parteiische oder gar (Täter oder sonstwen) anklagende Haltung schreibt wie sie selbst.
Das gehört zu den Dingen, die mich an dem Buch wundern, ja, irritieren. Ich wurde nie das Gefühl los, hier versuchen alle, es allen recht zu machen, allen gerecht zu werden, und scheitern genau deshalb zwangsläufig: Der Ich-Erzähler (dessen Männlichkeit mir erst mit sehr großer Verzögerung dämmerte) möchte weder Nova & co. noch seinen Freund Luis, der ebenfalls in das selbe Gesamtkunstwerk Frau, bloß in andere Persönlichkeiten von ihr, verliebt ist, verlieren. Er möchte Nova & co. gerecht werden, aber auch nicht deren Mutter, dem Anschein nach die (einzige) Täterin, die Verursacherin der Gewalt hinter dem Vielesein, zu nahetreten. etc.
Das alles ist, wie gesagt, in schöne Worte gekleidet, und das ist alles andere als abwertend gemeint. Im Gegenteil. Vor so mancher Formulierung zieh ich den Hut. Allerdings ist diese Art so sehr behutsam zu erzählen, weder lesend noch schreibend mein Ding. Liebe Güte, ich hatte beim Stimmengewirr stets das Gefühl, ich wäre zu zaghaft in der Darstellung der Gewalt. Ich wäre viel zu nett, würde als Schreibende meine Leser fast so sehr schützen wie als Überlebende die, die es doch hätten sehen und eingreifen müssen …
Was mein Problem, meine Frage, mein Dilemma ist. Und zugleich etwas, worauf jede und jeder seine eigene Antwort finden muss. Verena Liebers scheint im Versuch von "weniger ist mehr" zu liegen – weniger Persönlichkeiten lassen vielleicht mehr Raum, die einzelnen für den Leser darzustellen, weniger Gewalt stößt weniger ab, weniger Anklage, Wut und was man alles noch in dem Zusammenhang fühlen könnte, mag viel erträglicher sein. Aber ist das realistisch? Wird das der Realität gerecht? Oder sind das die falschen Fragen respektive womöglich einfach nicht die, die sich die Autorin des Schattenmädchens gestellt hat?
Ich weiß es nicht. Es ist gut, das Buch gelesen zu haben (zumal es mich daran erinnerte, dass ich Verena Liebers vor Jahren begegnet bin). Auch, wenn es weit davon entfernt ist, mein Lieblingsbuch zum Thema (das wechselt eh immer wieder) oder ein besonderes Aha-Erlebnis (was man z.B. über Aufschrei oder Nightmare sagen könnte) in dem Zusammenhang gewesen zu sein …