Barock’n’Roll

Können Heuchler rot werden? Oder verbergen sie sich vielmehr im gediegenen Sepia, das entsteht, wenn Natriumdampflampen (hingen früher über jeder Straßenkreuzung) eingesetzt werden und alle Farben verlöschen? Diese und andere Fragen drängten sich mir in der gestrigen Tartuffe-Premiere im Essener Grillo-Theater auf.

Denn zuallererst fällt das auf, was ins Auge fällt: Ein zugleich unglaublich klassisches wie modernes Bühnenbild (Thomas Dreißigacker) – gemalte Stoffbahnen, Soffitten, die einen barocken Palast zeigen, der von einem Windhauch verweht und durch Licht und Schatten zu bizarrem Leben erweckt werden kann. Im Zusammenspiel zwischen Bühne, Kostüm (Ursula Leuenberger) und Licht (Eduard Ollinger) entstehen immer wieder überraschende und treffende Theatermomente. Was zuerst wie ein Familienbild in Sepia daher kommt, tarnt sich als automatisch-mechanisches Theater (im Barock waren die Apparate, die mechanischer Roboter sozusagen, höchs beliebt) und wird dann im neuen Licht als schrill-bunt enlarvt: Elmire (Bettina Engelhardt) trägt höchst gewagt inmitten eines roten Bühnenbildes Pink und Jackie-Sonnenbrille. Tochter Marianne (Kristina Peters) in Blau und bauchfrei, aber mit ebenso ausgestelltem Rock wie die anderen Damen erinnert ein wenig an die minoischen Göttinnen (bloß ohne Schlangen, denn wer wollte Schlangen in den Händen halten, wenn man einen Heuchler im Haus hat?). Die Zofe Dorine (Sabine Osthoff) sieht mit ihren roten Kringellocken, Staubwedel und kniekurzem
"Uniformkleid" gar aus wie das Idealbild ihrer Zunft. Sie und der schwarz gewandete Schwager Cléante (Roland Riebeling) boten Schauspielkunst mit vielen Facetten – ob’s um präzise Bewegungen im Scherenschnitt der Automaten ging (auch ein Licht-Spiel, das man gesehen haben sollte) oder ein Umgang mit der gereimt-verdichteten Sprache Molieres gefordert war, bei diesen beiden stimmte einfach alles.
Sehr gelungen schien mir auch der Regiekniff, den Titel-Heuchler Tartuffe erst spät im ersten Teil auftreten zu lassen. Solange man den Mann, um den sich alles dreht, den frömmelndn Verführer, den glatten Guru nicht sieht, funktioniert das Spiel. Doch sobald er (gespielt von Andreas Grothgar) in seinem weißen Anzug die Bühne betritt, entsteht ein merkwürdiger Bruch: Womit hat dieser überdrehte Scharlatan bloß Herz und Hirn von Orgon (Werner Strenger) erobert? Strenger spielt den Bürger als verführten, verblendeten Haustyrann so, als wollte oder/und sollte er Lacher unbedingt vermeiden. Doch wenn man ihn so ernst nimmt (und das lässt der Text ja durchaus zu, auch wenn es üblicherweise meist anders inszeniert wird), wie kann er dann auf diesen Hampelmann Tartuffe reinfallen?
Schade. Einerseits hat die Inszenierung unglaublich viel Potenzial und sprüht vor Ideen – dafür ließen sich auch die Musiken, die häufig höchst passend "aus der Spur laufen" statt mit elegantem Fadeout zu enden, als Beispiel anführen. Andererseits fehlt am Ende die Konsequenz – bei diversen Musiken, wie z.B. dem von Damis (Lukas Graser) durchaus gut gesungen Italo-Schmachtsong, erschließt sich mir nicht, was sie mir sagen wollen.
Leider spiegelt sich diese Inkonsequenz auch im doppelten bzw. sogar dreifachen Schluss. Da wäre weniger mehr gewesen.

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