Geburt, Tod und alles dazwischen

In diesen Dreiklang passt alles. Auch die Drohung des fischäugig-kalte Schülers T., der in Horvaths Erzählung "Jugend ohne Gott", auf all das neugierig ist, aber nichts an sich ranlässt. Außer vielleicht Annette Pullen, die gestern in Essen mit der dramatisierten Fassung des Stoffs in der Casa Premiere feierte. 

Das Stück ist zeitgebunden, es riecht förmlich nach der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gefasst in die wunderbar poetisch-klare Sprache Horvaths. Das Stück ist zeitlos, und das nicht nur, weil die Menschheit nun mal die Tendenz hat, "die Jugend" – also die, die jünger sind als man selbst, aber bereits an der Schwelle zum Erwachsensein stehen, die Konkurrenz vor der Tür, sozusagen – für "unverständlich bis verroht, auf jeden Fall schlechter als die vorangegangene Generation" zu halten.
Ich bin weder Soziologe noch Historiker, ich weiß nicht, ob "die Jugend" im Lauf der Zeit brutaler oder angepasster, langweiliger oder aufregender geworden ist oder aber sich letztlich gleich bleibt. Immerhin sind "die Jugend" doch stets die Menschen gefangen im Hormonsturm eines Körpers in der Metamorphose und obendrein auf der Suche nach Sinn … heftiger, zerrissener geht’s wohl kaum.
Der T. – im Stück gibt’s keine Namen für die Schüler, die in Essen wiederum von Folkwangschülern sehr gekonnt, sehr gut geführt gespielt werden – der T. ist ein Beobachter, ein Voyeur, einer, der alles wissen will, alles über Geburt und Tod und das dazwischen. Fast könnte man ihn übersehen über seinen Mitschülern – dem dominanten N., dem feinsinnig-verliebten Z. und dem unterdrückten und duckmäuserischen B. – dabei ist er derjenige, der die Fäden zieht, und der, der aus purer Neugier tötet.
Was macht Gewalt mit den Menschen, ist eine meiner Grundfragen beim Schreiben. Annette Pullen zeigt es. Und Fritz Fenne als ihr Lehrer (höchst beeindruckend) übersieht es zuerst, solange er nur kann …
 Sicher, er versucht manchmal Stellung zu beziehen – mit seinem "Neger sind auch Menschen" handelt er sich Ärger ein -, aber er ist halt auch feig. Zu feig dem Z. zu gestehen, dass er das Kästchen mit dem Tagebuch aufgebrochen hat, er und nicht der N. Dann ist es viel spannender, den Z. mit seiner Geliebten Eva, die sich selbst als "verlorene Seele" bezeichnet, beim Sex zu beobachten. Erst nach dem Mord am N. und der Verhaftung des Z., erst im Gericht rückt er mit der Wahrheit raus, mit der er am Ende den T., den wahren Mörder in den Tod treibt …
Das schreibt sich klischeehaft und pathetisch, fasst man’s in wenige Zeilen zusammen. Bei Annette Pullen jedoch entstehen mal streng geometrische, mal kraftvoll-rhythmisierte Bilder zum Horvathschen Text. Und mir scheint, in den entstehenden Gesamtbildern bekommen die Figuren für einen Augenblick das, was sie bei Horvath nie finden dürfen: Ihren Platz im Ganzen. Denn bei Horvath, da sehnen sie sich zwar nach Nähe und Wahrheit, nach Mut, Liebe, Idealen – aber sie bleiben allein, schwach, ängstlich oder auch grausam. Schlichter gesagt, sie bleiben Menschen. Und als solche berühren sie die Zuschauer im Saal.
Denk ich jedenfalls. Denn das ist so eine Sache mit Horvath wie auch mit Tschechow – beide sind im Ruhrgebiet im allgemeinen und in Essen im besonderen nicht gerade Publikumsmagneten. Gewiss, auch sie haben ihre Liebhaber, aber die Masse zieht’s selten ins Theater. Doch Annette Pullens Inszenierung mit Fritz Fenne, Christoph Finger, Katja Heinrich und Carsten Otto aus dem Ensemble des Grillo sowie den Folkwangschüler Tim Mackenbrock, Bastian Heidenreich, Gregor Weisgerber, Alexander Ritter und Kristina Peters wär genau das zu wünschen … und bitte nicht nur laute Schulklassen, die der Lehrplan in die Vormittagsvorstellung zwingt. Also, worauf warten Sie noch?

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2 Antworten zu Geburt, Tod und alles dazwischen

  1. black sagt:

    Worauf ich noch warte ? Das grad Jugend ohne Gott endlich mal in der Nähe gespielt wird und nicht irgendwo im Pott. Wie oft habe ich dieses Buch wohl gelesen – boah wie ich es liebe… Es ist mehr wie nur zeitlos…

    Danke dass ich mal wieder an dieses Buch erinnert wurde und das nicht nur weil ich es zum x-ten Mal las.

  2. mischa sagt:

    Stets zu Diensten, liebe Black! 🙂 Aber … soweit ich weiß hast Du doch mehr als einen guten Grund, der Dich in den nächsten Wochen/Monaten auch in den Pott führen wird … da ließe sich womöglich auch ein Theaterbesuch einplanen, oder? 😉

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