E Pluribus Unum?

„Erstaunlicherweise sehnt man als Leser nicht unbedingt eine Heilung von Cäcilia-Josephine herbei. Jo & Co., wie sie miteinander leben, umgehen, streiten und verhandeln, kommen einem mit der Zeit fast so „normal“ vor wie eine ganz gewöhnliche Geschwisterschar. Man würde es geradezu bedauern, wenn die verschiedenen Charaktere miteinander verschmelzen und damit als Individuen ausgelöscht würden.“ Das schreibt Edith Nebel in ihrer Online-Rezension zum Stimmengewirr. Und ich nehm’s zum Anlass, schreibend weiterzudenken …

„Ist das heilbar?“ fragen viele Menschen, wenn sie sich das erste Mal mit dem Thema multiple Persönlichkeiten befassen. Womit sie meist das meinen, was Edith Nebel andeutet und was die Therapeuten „Integration“ nennen. Aber die Frage ist doch, ist man nur „gesund“, wenn in einem Körper nicht mehr als eine Persönlichkeit lebt?
Wenn man’s recht bedenkt, ist das Vielesein die Folge der Verletzung – also der zu heilenden Traumatisierungen – und nicht etwa die Ursache. Also wäre zu fragen, was ist Heilung im Kontext von Gewalterfahrungen, von physischen und vor allem psychischen Verletzungen?
Bei erwachsenen Gewaltüberlebenden geht es oft um die (unmögliche) Wiederherstellung des Lebensgefühls vor der Traumatisierung. Multiple Menschen jedoch werden als kleine Kinder so schwer verletzt, dass sie es nur als Viele überleben können – es gibt mithin keinen unversehrten, „heilen“ Zustand, den man mithilfe der Therapie wiederfinden könnte. Zudem können Traumatisierungen so oder so nicht ungeschehen gemacht werden – Heilung kann in keinem Fall einen Zustand meinen, in dem man sich fühlt „als sei nie etwas Schlimmes geschehen“. Man kann nur lernen, die Gewalterfahrung zu verstehen, ihr einen Platz im eigenen  Erfahrungsschatz zu geben und mit ihr zu leben. Das Wissen, wie sich Verletzungen anfühlen, zu was Menschen fähig sind, bleibt erhalten. Was spricht also dagegen, auch weiterhin als Viele zu leben?
Nur weil die große Mehrheit der Menschen nichtmultipel ist, ist das kaum die einzig sinnvolle und lebenswerte Existenzform. Und was Heilung bedeutet, kann jeder Mensch nur für sich selbst entscheiden. Das gilt auch, wenn ein Kollektiv diese Entscheidungen trifft … erst recht dann.
Und deshalb hat mich die eingangs zitierte Passage aus Edith Nebels Rezension besonders gefreut. 🙂

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