Wenn Sie sich erst nach dem Lesen meiner unmaßgeblichen Worte zum Thema "Die Leiden des jungen Werther" entschließen, Jan Bosses Inszenierung dieses Texte bei den Ruhrfestspielen sehen zu wollen, haben Sie Pech gehabt: Heute abend ist die letzte Vorstellung in Recklinghausen.
Aber falls Sie demnächst eh nach Berlin wollten oder da sowieso schon wohnen, hey, warum waren Sie dann noch nicht im Maxim-Gorki-Theater und haben sich Fritzi Haberlandt als Lotte, Hans Löw als Werther und Ronald Kukulies als Albert angeschaut?
Ich brauchte dafür Glück. Ich hab nun mal kein Auto und Geld eigentlich auch nur in Ausnahmefällen, jedenfalls nicht genug Geld, um all meine Kulturbedürfnisse zu befriedigen. Aber gestern hatte ich Glück: Ein guter Freund hatte eine Karte zu viel. Und so kam ich nach einer halben Ewigkeit im Pott lebend nun endlich mal zu den Ruhrfestspielen …
Und dann auch noch ausgerechnet Jan Bosses "Werther". Nichts gegen die anderen Stücke, die anderen Regisseure, etc. Kenn ich ja alles (noch) nicht, kann’s also nicht beurteilen. Aber der Abend war spannend. Sozusagen Werther für Erwachsene, denn Albert wurde mal nicht zum angestaubten grauen Aktenlangweiler gemacht, sondern durfte Mensch sein, zerrissen, aber erwachsen, gewissermaßen. Das wiederum bewirkte, dass ich gespannt auf der Stuhlkante saß und nicht nur mit- sondern auch hin- und hergerissen war: Sicher ist Werthers unbedingter Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach absoluter Hingabe reizvoll, attraktiv. Aber es nervt zwischendrin auch, dass der Kerl ständig fünf Umdrehungen zu hochtourt, nie ’nen Ganz zurückschaltet, und alles immerzu nur himmelhochjauchzend oder zuztodebetrübt sein muss. Wahrscheinlich kommt so einer nicht mal beim Zähneputzen oder beim Kacken runter. Albert dagegen, der versucht’s ganz realistisch, im Hier & Jetzt und dennoch fühlt auch er: Er wär sogar bereit, Lotten freizugeben. Wenn die beide das denn wollen. Sie gehen aber nicht drauf ein. Vermutlich wohl wissend, dass eine solche heiße, romantische, unbedingte Liebe keine Chance hat, den Alltag unverwandelt zu überstehen …
Wie auch immer. Es war hinreißend, den dreien zuzuschauen. Und das, obwohl ich Goethe schon immer als überschätzt empfunden hab. 😉