Es gibt mich noch. Und nicht nur das. Es gibt auch noch Theater neben dem viel geschmähten Regietheater (was immer das genau sein mag …). So hab ich zumindest die gestrige Premiere von Lessings "Emilia Galotti" in der Casa in Essen erlebt: Ein Theaterabend, wo nichts von den Schauspielern und dem Text (gekürzt, gestrafft und um den Obduktionsbericht Lessings ergänzt) ablenkt, sondern alles dazu und auch zusammengehört. Wie die Musik oder das "schleierhafte" Bühnenbild. Sehr schön. Nur, was ist das mit der Ehre, der Unschuld, dem "nur über meine Leiche" auch in diesem Stück?
Klar, diese Art von Ehre bzw. der Gleichsetzung weiblicher "Unschuld" oder "Keuschheit" mit Ehre ist etwas historisches, vielleicht sogar archaisches. Soll die männliche Erbfolge sichern – reine Theorie, aber das sind ja die meisten menschlichen Versuche, sich und/oder andere Menschen zu kontrollieren. Soll vielleicht auch das Zusammenleben einer Gruppe erleichtern, verbessern, wasauchimmer. Alles klar …
… nur, was bedeutet dieser "Ehr-Unschulds-Keuschheitsbegriff" und vor allem seine ungeheure Wertigkeit – anders als ungeheuer kann man es doch nicht nennen, wenn es gleich "nur über meine Leiche" heißt? Es geht mir gar nicht um dieses Inszenierung (zu folgern, Emilia könne und wolle nicht damit leben, dass ihretwegen ein Mensch ermordet wurde, macht Sinn & ist legitim) noch um Lessings Trauerspiel an sich. Es geht mir vielmehr um die Frage, was macht es mit Menschen, immer wieder mit diesem und ähnlichen Ehr-Begriffen konfrontiert & auch gefüttert zu werden?
Noch anders gesagt: Betrachte ich das aus Sicht eines Gewaltüberlebenden, womöglich noch eines Menschen, der als Kind Gewalt in welcher Form auch immer augesetzt war, erschüttert mich Emilias "eher sterb ich als …". Es berührt die typischen Schuldgefühle von Gewaltüberlebenden – die wieder und wiederkehrende Frage, ob man nicht doch hätte mehr tun können oder gar müssen, ob es nicht doch möglich gewesen wäre, etc. Gerade, wenn es um ein Kind geht, das der Gewalt eines Erwachsenen ausgesetzt war, ist von außen betrachtet völlig klar, das ist Humbug, angesichts der Übermacht gab es nichts, was das Kind hätte tun können. Zugleich sind solche Schuldgefühle der Überlebenden hilflos-quälende Versuch der Psyche, nicht erkennen zu müssen, wie hilflos man angesichts der Gewalt war. Aber genau da liegt der Hund begraben. Genau dorthin zielt meine Frage: Wieviel von dem tradierten Ehrbegriff, mit dem wir durch Literatur, Kunst & natürlich auch Film etc. wieder und wieder gefüttert werden, bildet den Bodensatz der quälenden und ganz und gar nicht angemessenen Scham- und Schuldgefühle von Menschen, denen Gewalt angetan wurde, die dies aber eben überlebt haben?