Mehr Gebärdensprache und mehr realitätsnahe Verbrechen aus dem Revier gewürzt mit schräg-schwarzem Humor gibt’s in der folgenden Leseprobe eines schon etwas älteren Kurzkrimis aus meiner Feder:
Duisburger Stille
von Mischa Bach
Wie erstarrt stand Lisa inmitten der verfallenen Villen, die man in einer anderen Zeit, die sich jetzt fast märchenhaft ausnahm, für die Kruppdirektoren erbaut hatte. Relikte, die es zu erhalten galt, und die sich doch, so schien es, niemand leisten konnte. Morgensonne fiel durch das Blätterdach, eine friedliche Idylle trotz des LKW-Verkehrs, der hinter ihr zum Logport rauschte.
Lisa holte versuchsweise tief Luft und sog nur eine neue Welle lähmende Panik in ihren Körper. Sie wusste, dass sie etwas tun musste. Ewig konnte sie hier nicht stehen bleiben, nicht mit dem blutigen Bündel zu ihren Füßen. Wenn sie nur schreien könnte … wenn sie nur Hilfe holen könnte. Plötzlich sprang sie der Hund an, stieß mit seiner Schnauze gegen das Handy in ihrer Tasche. Während das Tier sich neugierig dem Toten am Boden vor ihr zuwandte, zog sie mit zitternden Fingern das kleine Gerät hervor und tippte unbeholfen eine Nachricht an ihren Bruder.
»Rudi, aus!«, rief es neben ihr, als sie auf ‚Senden‘ drückte, dann brach die Stimme des Rentners. »Oh mein Gott«, stammelte er nur noch.
»Oh mein Gott«, entfuhr es auch Tom, als er Lisas SMS las. Abrupt sprang er auf, wobei er beinahe den Kaffee über die Tastatur des Rechners schüttete. Eben noch war sein größtes Problem die Frage gewesen, wie er die Überführung von Zelle 10 zum Haftrichter machen sollte, wenn sich die Kollegen für die Vernehmung von Zelle 8 weiter verspäteten, jetzt war das alles belanglos. POK Müller, der gerade von der Zellenkontrolle zurückkehrte, sah Tom fragend an.
»Ich muss los«, sagte er nur und hielt Müller sein Handy mit Lisas Nachricht hin, während er seine Uniformjacke anzog und nach den Wagenschlüsseln griff, »bitte«. Und weg war er.
Ob trügerisch oder nicht, von einer Idylle zwischen Villen und Bäumen konnte keine Rede mehr sein, als Tom auf dem alten Kruppgelände in Rheinhausen eintraf; und das hatte nichts mit der Arbeit der Logport zu tun, die für die Umwandlung des Geländes in ein Logistikzentrum verantwortlich zeichnete. Direkt hinter der Absperrung nahm eine Kollegin, mit der er früher Streife gefahren war, die Aussage des Rentners auf, der Lisa samt Leiche entdeckt und die Polizei gerufen hatte. Der alte Kruppianer war so blass wie sein Riesenschnauzer schwarz. Er lehnte an einem Polizeiwagen, daneben standen fein säuberlich aufgereiht Notarzt- und Leichenwagen sowie zwei Zivilfahrzeuge der Kripo bzw. der Spurensicherung. Die Leiche wurde begutachtet, der Tatort gesichert, Spuren akribisch eingesammelt, gewiss waren bereits Kollegen unterwegs, um bei Logport und den umliegenden Firmen Befragungen durchzuführen. Arbeiten, die er hätte verrichten sollen, dachte Tom grimmig. Mitten in dem Trubel, auf einer halb überwucherten, kleinen Mauer, die die Gärten zweier verfallener Villen trennte, saß Lisa, seine Schwester, der Grund, warum er hier professionell nichts zu suchen hatte, weil er nun die Tagesschicht im Polizeigewahrsam versah. Vor ihr stand Hermann, ausgerechnet der!
»Tom, was machst Du denn hier?«, Hermann hatte ihn entdeckt und unterbrach seinen zum Scheitern verurteilten Versuch, Lisa zu befragen. Tom fühlte sich plötzlich unendlich müde und deutete auf sie.
»Darf ich vorstellen: meine Schwester Lisa.«
Hermann blickte von Lisa zu Tom und begriff:
»Die Stumme?«
Lisa registrierte die abfällige Bemerkung kaum. Eben noch hatte sie versucht, den Gesichtsausdruck ihres großen Bruders zu deuten, jetzt verschwamm die Welt um sie herum. Wieder so ein verdammter Nervenzusammenbruch, dachte sie, bevor die Notärztin sie erreichte und schließlich der Film im Kopf riss.
Es blieb ihnen nichts übrig, als abzuwarten. Tom stand unschlüssig in Hermanns Büro im Präsidium, wollte helfen und konnte nicht.
»Sie hat das alles sehr mitgenommen«, sagte er schließlich, als der Mordermittler den Hörer auflegte. Tom hätte sich ohrfeigen können, wieder verteidigte er Lisa, wo es nichts zu verteidigen gab. Sie konnte doch nichts dafür, jedenfalls nicht am Anfang. Wenn überhaupt, traf ihn die Schuld. Als ‚es‘ vor gut vier Jahren passierte, hatte er mit seiner zehn Jahre jüngeren Schwester, seinem Vater und seiner Stiefmutter auf die Beecker Kirmes gehen wollen. Das hatte Tradition, das dritte Wochenende im August gehörte der Familie und der Kirmes. Nur, die Stiefmutter lag im Krankenhaus, und seine damalige Freundin konnte Kirmes nicht ausstehen. Sie hatte, ohne ihn zu fragen, Karten für »Elisabeth« in Essen besorgt. Nicht, dass er auf Musicals stand, aber wo der Haussegen zwischen ihm und ihr schon eine Weile schief hing, hatte er sich gefügt. Vater und Tochter brachen allein zur Kirmes auf. Ohne ihn machte es wohl nicht so viel Spaß; sie gingen viel früher als üblich nach Hause. Nur deshalb liefen sie den beiden Einbrechern, die das Kirmeswochenende für ihre Zwecke nutzen wollten, in die Arme.
»Mach Dir keine Sorgen«, unterbrach Hermann Toms Gedanken, »niemand verdächtigt Deine Schwester, einen vermummten Mann, der fast zwei Köpfe größer ist als sie, mit einem Messer erstochen zu haben.«
»Vermummt? Wieso?«
»Ist noch nicht spruchreif, aber ich denke, der Kerl kam von der Tankstelle beim Mercatorverteiler. Die Leitzentrale bekam kurz vor dem Notruf des Rentners bei Logport eine Überfallsmeldung von der Eller-Montan. Schon wieder …«, Hermann schüttelte den Kopf. Warum immer wieder dieselben Tankstellen überfallen wurden, wo da ohnehin kaum mehr Bares zu holen war, würde er nie verstehen. »Die in der Tankstelle waren zu zweit, kamen vermutlich mit ’nem gestohlenen Motorrad«, fuhr er fort, »und in der Nähe des Toten wurde ein Helm gefunden. Das Motorrad ist noch nicht wieder aufgetaucht, aber vielleicht identifiziert ja der Tankwart unseren Toten …«
Zwei nichtidentifizierte Räuber. Genau wie damals. Nachdem Lisa und Vater die aufgebrochene Tür entdeckt hatten, hatte sie versucht, einen Nachbarn zu finden, von dem aus sie die Polizei rufen konnte. Aber die waren alle auf der Kirmes, und so hatte es dem Alten wohl schließlich zu lange gedauert. Typisch. Geduld hatte er nie gehabt, er musste anscheinend unbedingt den Helden spielen. So, wie es aussah, traf der pensionierte Braumeister im ersten Stock auf die beiden Diebe und hatte wohl versucht, sie zu stellen. Ob es der Lärm des ungleichen Kampfes war, der Lisa herbeirief, war später nicht mehr zu klären. Ihr Vater stürzte schwer und war in den wenigen Tagen, die ihm danach noch blieben, nicht mehr vernehmungsfähig. Und Lisa, die die Flüchtenden ebenfalls angegriffen hatten, erinnerte sich an den Abend nicht mehr. Eine Amnesie. Ob die eine Folge der schweren Gehirnerschütterung oder des seelischen Traumas war, blieb unklar, war aber letztlich egal. Sie konnte der Polizei weder Tathergang noch Täter beschreiben. Der Fall war bis heute ungeklärt, und das war fast noch schlimmer als die Tatsache, dass Lisa seitdem nicht mehr sprach.
»Nun steh nicht da wie ein begossener Pudel«, Hermann stand von seinem Schreibtisch auf und schob Tom zur Tür, »fahr ins Krankenhaus, die werden Lisa in ein paar Stunden entlassen. Dann komm ich mit der Dolmetscherin zu euch nach Rheinhausen raus.«
Dolmetscherin. Natürlich, Hermann wollte eine direkte Aussage von Lisa, kein Schriftstück. Und er, er konnte ja keine Gebärdensprache. Er hielt das für Blödsinn, schließlich konnte Lisa hören und war, soweit es die physischen Folgen von damals betraf, vollständig wiederhergestellt. Immerhin hatte sie sich nach der Reha fast zwei Jahre in dem Eifelhäuschen der Familie um ihre an Alzheimer erkrankte Mutter, seine Stiefmutter, gekümmert. Die konnte genausowenig Gebärdensprache wie er und war wohl kein Anreiz für Lisa gewesen, es wieder mit dem Sprechen zu versuchen. Deshalb hatte er seine Schwester zu sich geholt, nachdem die alte Dame vor einem halben Jahr ins Pflegeheim musste. Er konnte seine einzige Verwandte, die zudem die einzige Zeugin für den Mord an seinem Vater war, doch nicht stumm und allein in der Eifeleinsamkeit sitzen lassen …
[…] aus:
Mord am Niederrhein. Kriminalgeschichten. Grafit 2004.
Leider ist dieses Buch lang vergriffen und mithin nur noch mit Glück antiquarisch aufzutreiben. Oder Sie laden mich zu einer Lesung ein, dann erleben Sie „Duisburger Stille“ … 😉