Asphaltgeflüster

Ich war mir so sicher, ich hätte von allen Geschichten, alt wie neu, wenigstensn eine Leseprobe hier im Blog. Um so erstaunter war ich, als mir kürzlich auffiel, das stimmt gar nicht. Aber dieser Mangel lässt sich leicht beheben, weshalb es nun in loser Folge nachgeholte Leseproben hier im Blog gibt. Und ich beginne alphabetisch, könnte man meinen, wenn man den Titel in Betracht sieht, denn den Anfang macht mein Essen Kurz-Krimi mit Gebärdensprache:

Asphaltgeflüster

von

Mischa Bach

Asphaltgeflüster – wonach klingt das für Sie? Was hören Sie, wenn Sie „Asphaltgeflüster“ hören? Ich höre nichts. Ich höre nie etwas. Ich bin Antiton. Das bedeutet mein Gebärdenname: Die Hand aufrecht bis auf den 90° abgewinkelten Mittelfinger voran schnellt Richtung Ohr, um sich anschließend mit ausgestrecktem Zeigefinger genauso rasch wieder von diesem meinem toten Organ zu entfernen.

Asphaltgeflüster – für mich hat das etwas Magisches und es kann vielerlei bedeuten: Manchmal ist es das metallische Flirren heißer Luft über der sommerlichen Fahrbahn oder der Tanz der Blätter im Herbst, die der Wind mit Zeitungsseiten und anderem Müll vor sich her treibt. Dann wieder ist es die Vibration der Autos, Motorräder und Lkw, die über eine Straße donnern, auf der ich als Kind am liebsten mit nackten Füßen stand. Manchmal tu ich das noch heute – und fühle mich so verbunden mit der Stadt und den Menschen statt abgekapselt in der gläsernen Zelle in meinem Kopf. Mein Ohr nimmt keinen Schall wahr, weder als Gebrüll noch als Geflüster. Mein Körper dagegen ist durchaus empfindlich für Schall- und andere Wellen – und Asphalt ist längst nicht so fest und starr und stumm, wie man meinen könnte. Asphalt kann verdammt geschwätzig sein, z.B. als ewige Gerüchteküche der Straße und ihrer Bewohner: Sie schwatzen, übertreiben, lügen, ich seh zu, und versuch, mir einen Reim zu machen aus abgeschauten Wörterfetzen, Gesten, Gesichtsausdrücken. Ein Strom von Sprach-Bildern, höchstens halb verständlich für mich, prasselt auf mich ein – auch das ist Asphaltgeflüster.

Ich weiß nicht, wie sich das Wort anhört und ich habe in keinem Gebärdenlexikon – meine Hände sprechen eine Sprache, die inzwischen sogar der deutsche Staat als solche begreift – einen Hinweis gefunden, wie es zu gebärden ist. Meine eigene Gebärde variiert – mal ist es eine Straße, dann wieder eine gerade Fläche, die von mir wegführt, bevor meine Fingerspitzen trippelnd, tanzend, wie kleine Wellen zurück zu mir kommen. In welcher Form auch immer, Dante fand, das passte exakt zu der dritten Bedeutung, die Asphaltgeflüster für ihn wie für mich hat: nämlich die Botschaften der Straße selbst. Wenn du auf der Straße lebst, hör ihr zu, schau hin, sei aufmerksam. Sie führt dich zu sicheren Schlafplätzen und warnt dich vor Gefahren.Wenn du bereit bist für ihre Botschaften …

Als ich Dante zum ersten Mal begegnete, war ich taub und blind für Botschaften aller Art. Ich war 17, wusste nicht, wohin mit mir und war so auf der Straße gelandet. Verrückte Ironie des Schicksals – meine Mutter, gehörlos wie ich selbst, war Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Ein Lkw geriet auf einer Brücke außer Kontrolle, Sand verschmierte die Fahrbahn. Der Fahrer konnte die Zugmaschine abfangen, der Hänger jedoch löste sich, knickte das Geländer um wie nichts und stürzte auf den Fußgängerweg darunter. Meine Mutter hatte keine Chance. Ein halber Lkw, der einem von oben auf den Kopf fällt, wie soll man den mit den Füßen oder einem anderen Körperteil rechtzeitig hören? Wer rechnet mit so etwas? Doch das war nicht das einzig Unerwartete, das mit dem plötzlichen Tod meiner Mutter über mich hereinbrach. Bis zu diesem Tag, siebzehn Jahre lang, hatte ich allein mit ihr gelebt. Es gab niemand sonst, keinen Vater, keine Großeltern, Tanten oder Onkels. Die paar entfernten hörenden Verwandten, die mit uns „Taubstummen“ nichts zu schaffen haben wollten, zählten nicht. Wir beide, Mutter und ich, hatten einander, und wir kamen prima zurecht. Sicher, es gab auch Streit. Gerade in letzter Zeit, denn sie wollte, dass ich im Sommer nach Essen ging, an die Kollegschule, um Abitur zu machen oder mir eine andere, weiterführende Ausbildung zu suchen. An sich richtig gedacht, es ist sonst nahezu unmöglich, als Gehörloser und in Gebärdensprache bis zum Abitur Unterricht zu erhalten – aber ich wollte nun mal nicht ins Internat. Ich wollte bei ihr bleiben. Der Streit war noch nicht ausgefochten, als meine Mutter so überraschend starb. Aber daran dachte ich nicht, als mich die Dolmetscherin vom Krankenhaus nach Hause fuhr. Ich glaube, ich nahm sie nicht einmal mehr wahr. Im Krankenhaus was sie schon überflüssig gewesen – das Gesicht des Arztes, der mit dem Blut meiner Mutter verschmiert aus dem OP zu uns kam, sagte alles. Und alles, was die Dolmetscherin danach gebärdete, verstand ich nicht mehr. „Vater“, gebärdet sie, als wir vor unserm Haus standen, und „Essen“, als wollte sie plötzlich die Stelle meiner Mutter übernehmen. Ich schüttelte nur den Kopf und verschwand in der Wohnung. Die Leere war der zweite Schock dieses Unglückstages. Ich begriff zum ersten Mal, was Hörende mit „Totenstille“ bezeichnen. Die Leere der verwaisten Wohnung hatte für mich zugleich die bedrückende Enge eines schmalen, tiefen Grabes und die unendliche, gigantische Weite des Todes. Ich konnte kaum atmen, wusste nicht, was ich tun sollte. Das Blinken des Faxgerätes schien mir fast geisterhaft, sonst war es doch ein Zeichen der Nabelschnüre in die Welt – Moment, wieso blinkte es? Noch wusste niemand vom Tod meiner Mutter. Das Fax kam aus Essen. Es war die Anmeldebestätigung der Schule in der Curtiusstraße, die mir zudem einen Internatsplatz anboten. Es könne ja sein, dass mein hörender Vater, ein Kneipenwirt aus der Nachbarschaft der Schule, doch nicht geeignet wäre, mich aufzunehmen, stand dort. Mein Vater …?! Ich hatte einen Vater, lebendig, ganz real und obendrein hörend? Meine Mutter hatte mich nicht nur hinterrücks in Essen angemeldet, sie hatte mir meinen Vater verschwiegen. Oder wollten mir alle – Schule, Dolmetscherin, selbst meine tote Mutter – das nun einreden?! Nein, es war real, er war real, wenigstens amtlich. Das sah ich, als ich meine Geburtsurkunde aus der großen Schachtel unterm Bett meiner Mutter nahm. Sein Name stand auf der Urkunde – und auf den Briefen mit der Seidenschleife, die ebenfalls in der Schachtel lagen. Meine Mutter, meine Sprachinsel, mein Halt in der Welt, hatte mich nicht nur durch ihren Tod verlassen, sie hatte mich auch im Leben verraten. Das war nicht auszuhalten. Ich musste raus hier, und zwar schnell. Genau das tat ich auch.

Nein, es ist kein verrückter Zufall, dass ich nach Essen verschwand. Zum einen war ich trotz allem neugierig. Ich wollte den Ort sehen, wo meine Mutter meinen Vater kennengelernt haben musste und rausfinden, ob es hier wirklich so viele Gehörlose gab, wegen der Schule, den Fortbildungsdingern und all den anderen Einrichtungen. Zum anderen dachte ich, das ist der letzte Ort, wo sie nach mir suchen werden …

An dem Tag, an dem ich Dante zum ersten Mal traf, schien es nicht so, als ob mich jemand suchte. Ich war abgetaucht und tief in der Scheiße gelandet. Als mir das Bargeld ausging, mit dem ich mich von der Beerdigung meiner Mutter fortgestohlen hatte, stand ich dumm da. Also nahm ich das Angebot an, Anstecknadeln und anderen Krimskrams in Cafés und Kneipen mit Kärtchen zu verteilen, auf denen zu lesen stand, ich sei taub und verkaufe die Erzeugnisse einer Behindertenwerkstatt, sei aber auch für eine Spende dankbar. Dabei lernte ich drei Dinge: Erstens, Drückerkolonnen gibt es in jeder erdenklichen Form, also gib bloß niemanden deinen Ausweis. Zweitens in Essen gibt es tatsächlich nicht nur viele Gehörlose sondern auch Hörende, die die Gebärdernsprache mehr oder weniger beherrschen. Was mir nicht viel nützte, denn als sich die angebliche Selbsthilfe Hörgeschädigter als Drückerkolonne Hörender entpuppte, war ich bereits den Ausweis los und musste schmerzhaft feststellen, dass mein Boss zwar nicht gebärden konnte, aber sehr wohl wusste, wann jemand abhauen wollte. Drittens lautet also, gib nichts auf den Schein, das Dahinter könnte was ganz anderes sein.

Das wiederum passte gut auf Dante, auf den ich endlich zurückkommen sollte. So ist es halt mit dem Asphaltgeflüster wie mit Unterhaltungen in Gebärdensprache – alles fließt, alles fliegt, doch selten gehen die Dinge den geraden, den kurzen Weg.

Es war Sommer, die Straßencafés waren voll. Auf der Kettwiger rund um den Dom herrschte Hochbetrieb. Ich hatte all meinen K&K – Krimskrams & Kärtchen – verteilt. Klar, ich hätt gleich nach der Austeilrunde mit dem Einsammeln beginnen können, aber ich hatte keine Lust. Verträumt stand ich im Schatten eines Baumes und achtete nur mit halbem Auge auf das Treiben um mich herum, obwohl ich dem alten Staßenmaler versprochen hatte, auf sein Werk und seine Sammelbüchse aufzupassen. Ich sah Dante nicht kommen, aber als mich der schmale Junge mit den langen Gliedern und den wirren, dunklen Haaren umrannte, sah ich am suchenden Blick, dass er vor etwas davon lief. Er sagte etwas, ich schüttelte den Kopf. Er war zu atemlos, zu hektisch, als dass ich von seinen Lippen hätte ablesen können. Ich zuckte ratlos mit den Achseln, deutete unbeholfen auf das Bild am Boden. Er ließ sich dort regelrecht auf die Knie fallen, wobei er mit der Linken etwas in seine viel zu große Jeans steckte und mit der Rechten nach der Kreide neben dem fast fertigen Breughel griff. In dem Moment teilten sich die Passanten, und ein dicker Mann in einem hellem, verknitterten Anzug stürzte auf uns zu. Er stoppte seinen Lauf, schaute sich verwirrt um. Er blickte von dem Jungen am Boden, der so vertieft ins Malen war, dass er gar nichts mehr vom Tumult um ihn herum wahrzunehmen schien, zu mir, und redet auf mich ein. Ich zuckte mit den Achseln, deutete auf meine Ohren, schüttelte den Kopf, bis der Mann begriff, dass ich ihn nicht hören konnte. Nun deutete er auf den Malenden, schaute fragend zu mir, deutete auf sein Ohr, als wolle er wissen, ob der andere Junge ebenfalls taub sei. Ich nickte, dachte mir, das könne nicht schaden. „Ja, malen, malen, nicht hören“, sagte ich. Der Mann im Anzug resignierte und wandte sich ab. Ich wollte mich dem Jungen zuwenden, rausfinden, was passiert sei, was er dem Dicken gestohlen hatte, als ich plötzlich die Hand meines Bosses auf meiner Schulter fühlte. Erschrocken drehte ich mich um, und begriff schlagartig, jetzt ging der Ärger los: Der Boss war sauer, weil ich nicht gearbeitet hatte; der Straßenmaler kehrte zurück, aufgebracht, dass ich den „Eindringling“ nicht vertrieben hatte und der Anzugträger wandte sich ebenfalls wieder uns zu. Darin sah der Boss offenbar eine Gelegenheit. Er zwang den andern Jungen, dem Mann seinen Geldbeutel zurückzugeben und sich zu entschuldigen – so sah es jedenfalls aus. Der Boss tat so, als seien wir seine halbwüchsigen Söhne, die nichts als Ärger machten. Der Anzugträger war unschlüssig, doch ein Zehner extra als Entschuldigung überzeugte ihn. Er zog seines Weges und der Boss zog den Dieb und mich dort weg. Dabei sah ich noch im Vorbeigehen, dass Dante, der stehlende, malende Junge, dem Bild des Alten zwei Gesichter hinzugefügt hatte: Einen Teufel mit den Zügen des Dicken und einen Engel mit den meinen. Ich lachte und er lachte mit. Den ganzen Weg bis zum Bulli vom Boss ging das so, obwohl der uns immer wütender hinter sich her zerrte, und er danach vollends ausrastete.

So haben wir uns kennengelernt. So begegnete ich ihm, der seinen Namen nicht verraten wollte. Also verpasste ich ihm einen Gebärdennamen: „Gottesfeuer“ – drei Finger zur Schwurhand oder eben der christlich-göttlichen Dreifaltigkeit erhoben, werden durch die Flammenbewegung der zweiten Hand zum Höllenfeuer. Nein, ich bin nicht gläubig, aber Dante war nun mal ein Wesen dazwischen, zwischen Himmel und Hölle, Mann und Frau, Mensch und Tier, manchmal schien sogar sein Augenfarbe wechselhaft. Und er malte ständig diese Höllenszenen, bei denen man nicht wusste, was ist seins, was schaut er sich von Breughel, Bosch oder Bacon ab. Dass ihm irdische Höllen nicht fremd sein konnten (und er Alighieri kannte), lag auf der Hand. Freiwillig leben 16jährige selten auf der Straße, und die Narben seines Körpers, von denen er sich nicht wenige selbst beigebracht hatte, wiesen auf eine Vielzahl seelischer Verletzungen. Und auf mehr, wie ich später begriff.

All das kümmerte mich damals nicht. Verrückt, verletzt, zerbrochen, er war ein Geschenk. In dem Moment, wo er begriff, ich bin gehörlos und wir beide hängen fest in der Drückerkolonne, hörte er auf zu sprechen. Er tauchte ein in meineWelt und soweit ab aus der anderen, wie er nur konnte. Er lernte meine Sprache und wurde mein Freund. Nein, er war und ist mein Freund seit jenem ersten Zusammenstoß vor dem Dom, auf der Kettwiger Straße, an jenem Sommertag. Dante flirtete mit vielen Menschen. Er hat die Fähigkeit zu sein, was sein Gegenüber suchte oder doch zur Leinwand für dessen Wünsche zu werden. Fast alles an ihm war im Fluss, veränderlich, unberechenbar, mal bewegte er sich zart und weich wie eine Tänzerin, dann stand da ein pubertärer Rotzbengel voll Kanten und Ecken, der im nächsten Moment zum androgynen dunklen Engel wurde. Aber was immer die andern in ihm sehen mochten, für mich war und blieb er mein Freund, wie ich sein Freund war.

[…] aus:

Hängen im Schacht, hrsg. von H.P. Karr, Kbv 2010 – gibt’s natürlich auch in meiner Essener Lieblingsbuchhandlung Proust 🙂

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