Meine Sonntagsfrau

Jeden Sonntag kam, früher oder später, der Moment, an dem ich zum Hörer griff – genauer gesagt: mich mit meinem uralten, aber bequemen Headset verkabelte -, und deine Nummer wählte. Auswendig, natürlich, kurz genug war sie ja und seit einer Ewigkeit dieselbe. Das brauchte kaum Zeit, allemal weniger, als nach der Kurzwahl im gespeicherten Telefonbuch zu suchen; bis ich dort „Tante Anneliese“ ausgewählt hätte, ertönte frei gewählt längst das Freizeichen in meinem Ohr.

Denn frei war Deine Leitung eigentlich immer – selbst, wenn ich ausnahmsweise an einem anderen Wochentag zum Hörer griff, weil mich am Sonntag ein Arbeitstermin oder der Sommerurlaub am Gespräch mit Dir hindern würde, war das so. Nur, wenn ich an Deinem Geburtstag anrief, kam es vor, dass ich mehrere Anläufe brauchte, um statt des Besetztzeichens erst das Freizeichen und dann Deine Stimme zu hören. Und am Weihnachtsfeiertag, an Neujahr, Ostern oder auch an meinem Geburtstag warst es ja stets Du, die mich anriefst – meist am Vormittag, stets besorgt, dass es womöglich zu früh sein könnte oder Du mich in einem ungünstigen Augenblick erwischt haben könntest.

Sonntags jedoch, entweder am ganz frühen oder am späteren Nachmittag, damit ich nicht etwa bei einem Besuch Deines Sohnes störte, konnte ich mich darauf verlassen, dass Du Dich freuen würdest, wenn ich Dich ans Telefon holte. Ganz gleich, was auch sein mochte, ob ich Dich vom Fernseher, von einer politischen Diskussionsrunde, einer Wissenschaftssendung oder gar einer Deiner geliebten Tierdokumentationen wegholte, Du freutest Dich, meine Stimme zu hören. Was immer danach kommen mochte in unserem Gespräch, allein das wäre es mir wert gewesen, Dich anzurufen.

Ich glaube nicht, dass das nur daran lag, dass Du seit dem Tod Deines Mannes ganz allein in dem großen Haus gelebt hast, das Du kaum mehr alleine verlassen konntest, weil Dein Herz zu geschwächt war, um auch nur den Hang hinauf zur Bushaltestelle, zum Friseur oder zum Einkauf in einen der verbliebenen Läden des Dorfes zu kommen. Nur in die andere Richtung, hinunter zu Deiner Schwester, meiner Mutter, konntest Du an guten Tagen bei gutem Wetter laufen – wenn Ihr denn verabredet wart, damit auch sicher war, Du störst nicht und wirst später wieder rauf gefahren.

Fünf Jahre Einsiedelei, stets auf die Hilfe anderer im Alltag angewiesen, ob es um den Garten ging oder gar Deine große Angst, das Schneeräumen (Gottseidank in unseren Breitengraden seltener vonnöten, als Du von Oktober bis April fürchtetest), ob Du zum Einkauf oder zum Arzt musstest oder Bekannte besuchen wolltest. Deshalb muss ich wohl eines Tages auf die Idee gekommen sein, Dich stets sonntags anzurufen – an dem Tag ohne Putz- und Einkaufshilfe, ohne Gärtner oder Friseur schienst Du mir stets am einsamsten und selbst bei Freiberuflern wie mir ist am Sonntag am häufigsten Luft im Terminkalender.

Luft zum Reden hattest Du fast immer. Manchmal brauchtest Du einen Moment, weil Du im Keller, auf der Terrasse oder hinten im Garten gewesen warst, als das Telefon klingelte. Dann sagtest Du hustend, „Moment, ich muss etwas trinken, warte, ich lege den Hörer hin –“, bevor es losgehen konnte. Danach hörte ich Dich rasch in großen, tiefen Schlucken trinken, und ich hatte jedes Mal das Bedürfnis, Dir zuzurufen „kein Grund zur Eile, ich bin ja da, ich habe Zeit, verschluck Dich nicht!“. Doch weil Du anschließend meist mit einer Frage zurück an den Hörer eiltest, kam ich wohl nie dazu, Dir das tatsächlich zu sagen. Zu schnell waren wir mittendrin – im Wetter- oder Weltgeschehen, bei Dingen, die Du gesehen oder gehört hattest, und natürlich bei dem, was Deine Woche bestimmt hatte. Dazwischen kam, oft unvermittelt, Deine neugierige Frage, was ich gerade mache. Dass ich das Telefon gerne nutze, um mich von ungeliebten, aber fälligen Arbeiten – bügeln, staubwischen, Bad putzen oder dergleichen mehr – abzulenken, schien Dich zu faszinieren. Jedenfalls hattest Du Spaß an dem Versuch, meine jeweilige Tätigkeit allein am Nebengeräusch während unseres Ferngesprächs zu erraten.

Auf eine Art waren wir sehr im Jetzt miteinander verbunden, wenn wir telefonierten. Und in gewisser Weise war es unsere eigentliche Verbindung, die, in der wir uns ganz frei bewegen konnten. Wo wir auch über Dinge sprachen, die keine von uns je gegenüber einem anderen so gesagt hätte. Es war erstaunlich, wie nah wir uns über die räumliche Distanz, den Alters- und Wesensunterschied hinweg sein konnten. Und es macht mich traurig, dass mit Deinem Tod auch eine Verbindung in die Vergangenheit, ein einzigartiger Mosaikstein im Blick auf unsere Familie, meine eigene Herkunft, unwiderruflich verloren gegangen ist.

Es hat mich tief beeindruckt, dass ein Mensch, dessen Lebenskreis krankheitsbedingt so eng geworden ist, sich noch so sehr für alle möglichen Belange der Welt interessiert. Der Fernseher war dabei Dein Fenster hinaus in die Weite, die Verbindung mit der Menschheit, der Natur, all den unerreichbar gewordenen Orten und Eindrücken. Immer wieder standen Themen aus Diskussionen oder Dokumentationen im Vordergrund dessen, worüber wir miteinander sprachen, und manches Mal habe ich mich erstaunt stumm gefragt, mit wem ich eigentlich sonst noch in der Ausführlichkeit über solche Dinge von allgemeinem Interesse spreche.

Dabei fällt mir nun, wo ich weiß, dass wir nie wieder miteinander reden können, ein seltsamer Widerspruch ins Auge: während Du einerseits ganz und gar weltoffen ans Allgemeine herangehen konntest, schickte Dich vieles, was Dich persönlich betraf, in rasch enger werdende, nicht enden wollende Kreisbewegungen. Dinge wie Handwerkertermine oder auch nur der Gedanke an nötige Reparaturarbeiten im Haus, konnten Dich in einen Zustand vollständigen emotionalen Aufruhrs versetzen. In solchen Momenten war es kaum mehr möglich, an Dich heranzukommen. Manchmal half es, Dich schlicht machen zu lassen: Du kreistest in Deiner Aufregung fünf Mal ums Thema und vier Mal um Dich selbst, bis Du Dich dadurch hinreichend beruhigt oder wenigstens so weit erschöpft hattest, dass man anschließend ruhig und vernünftig gemeinsam nach Lösungsansätzen suchen konnte. Manchmal reichte das jedoch nicht, dann war es, als würdest Du Dich mit jeder Drehung ums immer gleiche Problem immer fester in dessen vermeintliche Unlösbarkeit und Unerträglichkeit verbeißen. In diesen Momenten war es schwer, so weit weg und damit unfähig zu sein, Dich einfach in den Arm zu nehmen und festzuhalten. Das einzige, womit ich mir dann noch behelfen konnte, war einigermaßen laut wiederholt „Tante Anneliese!“ ins Telefon zu rufen, und dann, wenn Du schließlich atemlos innehieltest, und „ja?“, fragtest, zu versuchen, die Lage zu beruhigen.

In solchen Situationen kam es mir so vor, als seien Deine Gedanken und Gefühle wie Vögel in einer Voliere, in die der Fuchs oder eine Katze eingedrungen ist. Wildestes Geflatter und Geschnatter, ein Riesenaufruhr, halb panischer Abwehr, halb heillosen Fluchtversuchen geschuldet – und das weit über den Zeitpunkt hinaus, an dem das Raubtier aufgegeben und selbst das Weite gesucht hat. Dann schien es mir, als stünde ich in der Voliere und versuchte, die Vögel mit sanfter Stimme und ruhigen Bewegungen dazu zu bringen, dass sie sich wieder auf ihre Stangen setzen – und zwar alle, ohne dass im nächsten Moment einer von ihnen wieder aufschreckt und wenigstens den halben Schwarm mitreißt, so dass wieder alle herumflattern, stets in Gefahr, sich gegenseitig zu verletzen. Das brauchte Zeit, Geduld, auch Übung, wie ich fand. Aber es machte Sinn, war der Mühe wert.

Und jetzt, wo ich das schreibe, bemerke ich noch etwas: Meine Vorstellung von Deinem Geist, Deinem Wesen als einer Voliere voller Vögel scheint ein Gegenstück zu Deiner Vision eines guten Todes. Denn auch darüber sprachen wir und das nicht nur einmal: was für uns ein guter Tod wäre.

Während meine eigene Vorstellung davon eine recht abstrakte ist – mit einem letzten Ausatmen sich selbst verströmen, das Leben bewusst loszulassen und sich am Ende in der Atempause zu verlieren – war die Deine ganz konkret: Du wolltest in Deinem Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen, den Blick übers Blumenfenster mit den Orchideen und die Terrasse auf das Neuwieder Becken gerichtet. Weit draußen der Rhein, dahinter, am anderen Ufer, das graue Atomkraftwerk, nurmehr eine teure Ruine, die nicht mehr lange das Panorama verschandeln wird. Darüber spannt sich schier unendlich der Himmel, und im Idealfall wäre er im Moment Deines Todes, der ein plötzlicher sein sollte, nicht einfach nur strahlend blau, sondern Wolken schwebten majestätisch vorüber.

Du konntest diesen Moment so plastisch beschreiben, dass selbst ich Sehnsucht danach bekam. Manchmal sagtest Du mitten in einem Gespräch, „oh, jetzt sieht der Himmel genauso aus, jetzt würde er passen“. Du hattest dann fast immer ein kleines Lachen mit einem Hauch Melancholie in der Stimme. Das hörte ich, bevor ich jedes Mal antwortete „aber bitte nicht jetzt! So sehr ich es Dir gönne, das wäre doch eine sehr verwirrende Situation für mich am anderen Ende der Leitung!“. Worauf Du stets etwas in Richtung „nein, jetzt ist es noch nicht so weit“ oder auch „jetzt reden wir ja auch noch“ erwidertest.

Und genau das taten wir. Bis der Sonntag kam, an dem mein Freizeichen sich partout nicht in Deine Stimme verwandeln wollte. Beim ersten Mal dachte ich, womöglich bist Du bei meinen Eltern zum Kaffee und Ihr habt bloß vergessen, mir Bescheid zu sagen. Da dies nicht das erste Mal gewesen wäre, fragte ich nach und erfuhr von meiner Mutter, nein, dort warst Du nicht. Vermutlich war also Dein Sohn zur Zeit mit Dir unterwegs. Wir sprachen eine Weile, auch über Dich, über gewisse Sorgen und was wir tun könnten, um zu helfen. Dann legten wir auf, und ich versuchte weiter, Dich zu erreichen.

Mit jedem Mal, bei dem das Freizeichen nach einer gefühlten Ewigkeit zum unvermeidlichen Besetztzeichen wurde, wuchs meine Unruhe. Selbst, wenn Du einen meiner Anrufe womöglich verschlafen und einen weiteren dazu auf der Toilette verpasst hättest, und zwischendrin mit Deinem Sohn zum Grab Deines Mannes gefahren wärst, um dort nach dem Rechten zu sehen – nach zwei, allerspätestens drei Stunden hätte ich Dich mit einem meiner Anrufe erreichen müssen. Denn – wohin hättest Du wie gegangen sein sollen? Was blieb also, als erneut meine Mutter anzurufen, um Dir Deine Schwester zur Hilfe zu schicken? Ich selbst hätte weitere Stunden gebraucht, um mit Bus und Bahn zu Dir zu kommen …

Sechs Tage hast Du danach noch gelebt, in zwei verschiedenen Krankenhäusern. Sechs Tage, in denen Sorge und Hoffnung sich wieder und wieder abwechselten. In denen Du zeitweilig nicht nur bei Bewusstsein, sondern sogar auf dem Weg der Besserung schienst, wie man so sagt. Immerhin, als Du am Ende gegangen bist, warst Du nicht allein und so gut versorgt, wie es eben geht.

Ganz gleich, was man vom Fenster Deines Krankenzimmers sehen konnte, ich stelle mir vor, am Ende hast Du die Tür der Voliere weit, weit aufgemacht, bevor Du mit dem Vogelschwarm aufbrachst in die Weite des Himmels hoch überm Fluss, dem Tal, der Welt. Und dort überall werde ich Dich sehen, sonntags, am Nachmittag und an allen anderen Wochentagen, wenn ich an Dich denke.

(Copyright 2016 by Mischa Bach)

Dieser Beitrag wurde unter Leseproben abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert