Zeit mag messbar sein, wenn es um die erlebbare/erlebte Form davon geht, zerrinnt sie oftmals wie Sand oder auch Wasser zwischen den Fingern. Manchmal bleibt jedoch das eine oder andere Fragment hängen — wie der folgende Text zeigt, allein schon, weil er mich schon viele, viele Jahre begleitet (und entsprechend oft in winzigen Details bearbeitet wurde):
Die Fliege
Die Fliege verursachte ein Kribbeln an ihrem Bein. Erschrocken und verwundert zugleich blickte sie auf und kratzte sich an der Stelle. Was die Fliege natürlich den Sekundenbruchteil zuvor bemerkte, so dass sie ihres Weges flog.
Die Frau schüttelte den Kopf. Was war gewesen? Die Worte auf der aufgeschlagenen Buchseite sagten ihr nichts, buchstäblich nichts. Hatte sie das eben gelesen? Oder hatte sie bloß vor sich hin geträumt, war sie eingeschlafen? Der Blick auf die Uhr brachte sie nicht weiter. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt auf das Ziffernblatt gesehen hatte und beim Lesen hörte die Zeit ohnehin für sie zu existieren auf.
Jedenfalls stellte sie fest, dass es noch nicht zu spät war. Allerdings, bemerkte sie beim Anzünden einer Zigarette, allerdings gibt es ja auch für Träume keine Zeit. Den Kopf abermals schüttelnd, wandte sie sich wieder dem Buch zu. Sie suchte jetzt zurückblätternd einen Abschnitt, einen Satz, der ihr bekannt vorkam. Merkwürdig, wie viele Seiten sie umdrehen musste, bis sie endlich darauf stieß. Ja, das könnte es gewesen sein. Wie konnte man nur so unaufmerksam sein? Schließlich hatte sie sich für heute doch zehn Kapitel aus dem Lehrbuch vorgenommen.
Doch inzwischen interessierte das nicht weiter. Lernen konnte sie auch später noch. Ob man wohl oft Zeit auf diese Art verliert, fragte sie sich. So ganz unbemerkt. Immerhin gab es ja oft genug keine Anhaltspunkte. Nicht bei jedem Buch braucht man den Zusammenhang, um zu verstehen. Aber braucht man den eigentlich? Geht es nicht auch anders, konnte nicht ein niedergeschriebener Gedanke, ein Bruchstück einer Theorie, genügen, wenn er bloß die richtige Saite im Inneren zum Klingen brachte? Überhaupt, konnte man die Ideen eines anderen wirklich verstehen?
Und da war es wieder, das Gefühl der Müdigkeit. Als ob die Anstrengung zu Lernen, der redliche Versuch, zu verstehen, ihren Geist umnebelten. Und Gedankenfetzen in ihr herumwirbeln ließ, zusammenhanglos, unfassbar. Vielleicht sollte sie lieber nicht über solche Kernfragen, über solche Fragen nach Sinn und Grenzen des Denkens nachgrübeln. Vielleicht … Aber jetzt war es schon zu spät für derlei Überlegungen.
Die alte, vertraute Spirale hatte sie wieder. Kann man – geht es – was ist – was ist Denken – was bin ICH – … Unendlich konnte das so fortgehen. Endlose Fragen ohne Antworten. Gab es keine Antworten, waren die Fragen falsch? Es war, als ob sie immer tiefer in sich (was zum Teufel war das denn nun?) hinein trudelte, eben in einer Spiralbewegung in ihr Inneres fiel. Kein Boden unten sichtbar oder denkbar, kein Himmel oben zu ahnen. Überhaupt kein Oben und Unten mehr, nur noch die Spirale und der Widerhall von Fragen, den alten Fragen, den vertrauten Fragen …
Der plötzlich einsetzende Regen ließ sie aufschrecken. Sie raffte ihre Sachen zusammen und flüchtete sich in die Wohnung. Und ein Blick auf die Uhr sagte ihr mal wieder nichts, gar nichts.
(c) Mischa Bach (1984ff)