Fugen

Weil Leseproben ausschließlich als Appetithappen auf Dauer unbefriedigend sind und überdies das Buch, in dem Fugen ursprünglich erschien schon ewig vergriffen ist, gibt es diese Geschichte — die auch kein Kurzkrimi im engeren oder weiteren Sinne ist — nun hier als Ganzes:

Fugen
von Mischa Bach

 
Ein — Aus. Ein — Aus. Blasebälgen gleich, Hebewerken gleich, immer Auf und Ab, Raus und Rein, ein ewiger Strom, fast ein Perpetuum Mobilé.
Ein — Aus. Ein — Aus. Dazu leises Surren, monotone Piepsgeräusche. Der Rest ist Schweigen, das sagt man doch so. Aber, stimmt das auch?

Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte sie geglaubt, sie sei gar nicht wirklich, sondern der Traum eines anderen, kleinen Mädchens. Sie war nur da, wenn dieses Mädchen schlief. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob sich das andere Mädchen, das »da draußen«, an sie erinnerte, vielleicht seinen Freundinnen von ihr, dem Traumkind, erzählte. Manchmal hatte sie sogar versucht, dem anderen Mädchen Botschaften zukommen zu lassen. Einmal hatte sie eine solche Botschaft in Italien in den Sand geschrieben. Die Eltern hatten nur gelacht, als sie gelesen hatten »Ich bin in Deinem Traum. Kennst Du mich? Gib mir ein Zeichen!«. Sie hatten nicht verstanden, wozu das gut sein sollte. Aber sie hatten sie gelassen, sie war ja so phantasiebegabt.
War sie das wirklich? Wenn sie sich umsah in ihrem Leben, wusste sie es nicht mehr. Das Haus auf dem Land, der kleine Garten dahinter, die Arbeit mit den Kindern in der Schule, all das war wunderbar, ganz sicher wunder­bar. Genau das, was sie immer gewollt hatte. Dienstags ging sie mit ihren Freundinnen ins Kino, freitags zum Badminton und dann in die Sauna. Sie träumte manchmal davon, ein Kinderbuch zu schreiben, aber sie kam nie da­zu. Ihr Leben war auch so aus­gefüllt. Mit der Schule, dem Haus, dem Gar­ten, den Freundinnen … Mo­ment, welche Freundinnen denn? Gab es die überhaupt, gab es das alles, das Haus, die Schule, den Garten?

Ein — Stopp. Etwas hakt. Die Piepsgeräusche werden hektisch, die Blase­bälge haben Mühe, mit der veränderten Lage klarzukommen. Es wird plötz­lich alles hektisch, etwas stimmt nicht!

Etwas stimmte nicht mit ihr. Der Gedanke kam ihr bekannt vor. Er war nicht schön, aber sehr viel realer als das sonnige Haus, die wohlige Sauna und die Schule nebst Freundinnen. Das war nicht wirklich, ein alter Traum nur. Aber was stimmte nicht mit ihr, was nur? Man ist sich selbst so ausge­liefert wie der Wirklichkeit. Dinge geschehen um einen herum, Dinge ge­schehen in einem drinnen. Und beeinflussen, was kann man schon beein­flussen? Si­cher, man kann es versuchen. So, wie sie ihn verlassen hatte, weil sie seine Nähe nicht mehr ertragen konnte. Weil sie sich eingesperrt fühlte in seinen Lebensträumen, Karriere und Kinder, beides für sie beide, und sie wusste doch gar nicht, ob sie auch nur eines davon wollte, geschweige denn beides und ihn! Sie wollte Platz, daran erinnerte sie sich wieder, Raum zu atmen, zu leben, zu wachsen. Den hatte sie sich genommen. Und dann … dann stimmte nichts mehr.
Zuerst hatte sie sich gefragt, ob sie krank sei. Sie hatte gespürt, wie sich ihr Körper veränderte, wie die Dinge wuchsen, aber nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nicht sie selbst wuchs, sondern in ihr selbst wuchs etwas. Es war erschreckend, einfach nur erschreckend. Und dass er ausgerechnet an dem Tag anrief, an dem sie sich zum ersten Mal die Frage stellte, ob das mehr als eine symbolische Empfindung, mehr als blanke Hysterie – viel­mehr ein Fall für den Gynäkologen – sein könnte, machte die Sache auch nicht besser. Da wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie als Kind recht gehabt hätte und das andere Mädchen, das jetzt wohl auch eine andere Frau sein müsste, würde aufwachen und nie wieder schlafen. Oder wenig­stens nie wieder von ihr träumen.

Ein — Stocken — tiefes, entsetzlich tiefes, fast stöhnendes Aus. Das Piep­sen beruhigt sich vorläufig wieder, wie auch die blinkenden Monitore. Die Hek­tik legt sich, das leise Surren ist wieder hörbar. Die Schläuche erzittern, die Blicke wandern erneut zu ihr. Aber nichts geschieht, nur ein kratzendes Geräusch, ganz leise, kratzt sie der Schlauch im Hals? Man beschließt, sie nicht alleine zu lassen.

Die anderen im Wartezimmer hatten sie angestarrt, verstohlen zwar, aber es war ihr nicht entgangen. Sie hatte versucht, es zu ignorieren, aber das war genauso vergebens, wie das Jucken am ganzen Körper zu ignorie­ren. Natür­lich war da nichts, das war immer so bei ihr, eine rein nervöse Re­aktion. Die ihn genervt hatte. Nachdem er sie damit zu diversen Ärzten ge­schickt hatte und die nichts, rein gar nichts physiologisches dazu finden konnten, hatte er nur mit den Schultern gezuckt, geseufzt und genervt geblickt: »Lass es ein­fach sein. Da ist nichts.« Und das jedes Mal.
Warum nur ihr das jetzt in den Sinn kam. An ihn wollte sie nicht denken, ebenso wenig wie an das, was mit ihr nicht stimmte. Aber sie konnte nicht anders, es drängte sich auf. Da war es wieder, das Haus, die Arbeit – natür­lich nicht in der Schule, obwohl das vermutlich die Sache erleichtert hätte, auch nicht in der Behörde, wie früher, sondern in seiner Beratungsfirma, an seiner Seite – der Garten, nur, statt der Freundinnen und dem Badminton gab es ihn und ihren dicken, runden Bauch. Sie fühlte, wie die Sonne darauf schien und sein wohlwollender Blick darauf ruhte. Das war sein Kind, was da wuchs, seines. Jetzt hatte er sie ganz, mit Haut und Haaren und allem, was darunter und darinnen war.

Ein — Würgen, Würgen statt dem Aus! Der Schlauch zittert, das Blinken auf den Monitoren wird zum Veitstanz, begleitet vom wilden Pfeifkonzert. Hilfe eilt herbei, Hilfe, die doch nicht weiß, wie sie am besten helfen soll. Ist sie denn schon so weit? Kann man, muss man gar?
Aus. Endlich Aus. Die Hektik legt sich wieder.

Nein, nein, und nochmals nein. Das durfte nicht sein. Was immer der Test bringen würde, er würde es nicht einmal erfahren. Schlimm genug, dass sie jetzt hier saß und wartete, dass sie endlich zum Arzt reinkonnte. Damit ihr endlich jemand sagte, was nicht stimmte mit ihr. Danach könnte man han­deln. Danach wäre die Hilflosigkeit, dieses verdammte Ausgeliefertsein vor­bei.
Die Wut überschlug sich, verfing sich in der Angst. So einfach würde es nicht sein, bestimmt nicht, soviel Glück würde sie ganz sicher nicht haben. Es hatte doch Jahre, Jahrzehnte fast gedauert, bis sie erfahren hatte, was mit ihrer Kindheit nicht gestimmt hatte. Bis ihre Mutter sich endlich scheiden ließ und ihr zum Abschied entgegenschleuderte, sie solle ruhig beim Vater bleiben. Schließlich habe sie sie nur bekommen, weil er das so wollte. Und 16 Jahre in den Fesseln der Mutterschaft, des Ehefrauseins, das sei nun wirklich mehr als genug.
Bis dahin waren es nur manchmal leise Zweifel gewesen. Zweifel, die sie zuerst mit der Idee, nur ein »Traumkind« zu sein besänftigen konnte, und die später durch Rücksichtnahme, durch Anpassung, durch Wohlverhalten ausgelöscht werden konnten. Zumindest für den jeweiligen Moment, in dem sie es dann ihrer Mutter, ihrer armen, überlasteten Mutter recht machen konnte. Der Frau, die für sie auf ihre Träume verzichtet hatte. Heroisch ihr Leben dem des geliebten Kindes untergeordnet hatte. Dann der Vernich­tungsschlag. Alles war mit einem Mal anders. Sie hätte nie geboren werden sollen. Ihre Geburt war der unauslöschliche, nicht zu ändernde Makel ihres Lebens.

Ein — Aus — Ein — Aus. Stockend, zögernd, verhalten, gehalten der Atem. Und immer noch, immer wieder das Würgen, der Kampf gegen den Schlauch im Hals. Die Berührung der Schwester bringt vorübergehende Ruhe, besänftigt, wo doch eigentlich, in Wahrheit Aufbäumen, Sicherheben die Rettung wäre.
Es stimmte also, der Arzt bestätigte ihren Verdacht. Wie betäubt war sie aus der Praxis gegangen. Den Ratgeber für den Abbruch ebenso wie diverse Heftchen mit Hinweisen für Schwangere in der Tasche. Noch hatte sie Zeit, das hatte auch der Arzt gesagt. Aber eigentlich wollte sie keine Zeit, eigent­lich wollte sie — mein Gott, konnte die andere Frau nicht aufwachen, damit sie aufhörte zu existieren? Ein Teil von ihr wusste, dass sie nicht der Traum einer anderen war, aber ein anderer Teil von ihr klammerte sich an diesen Gedanken. Wie an eine Rettungsleine, wie an eine Nabelschnur.
Was war das für ein Kind, was da in ihr wuchs, fragte sie sich plötzlich. Ob es ihre Angst fühlte, ob es träumen konnte? Noch war es ja nicht vielmehr als ein Haufen Zellen, aber war es nicht auch eine unendliche, kleine Welt voller Möglichkeiten? Hatte sie das Recht, das zu zerstören? Musste sie sich nicht beugen, sich nicht fügen? Es hieß ja gar nicht unbedingt zurückzukeh­ren zu ihm, sich schon wieder von ihm retten zu lassen und sich das dann den Rest ihres Lebens anhören zu müssen. Es hieß auch nicht, den Illu­striertentraum von Haus, Garten, Schule und Freundinnen zu verfolgen. Es hieß nur, sich auf das Leben einzulassen, Wärme zu geben, Geborgenheit, Sicher­heit …

Ein — Aus. Und plötzlich Stillstand, durchgehender Piepston. Die Schläu­che zittern nicht einmal mehr. Die Schwester springt auf, Pfleger und Ärzte stürzen in das Zimmer.

Sicherheit, klar, Sicherheit und Geborgenheit. Das kannte sie nicht. Er war Sicherheit ohne Geborgenheit gewesen oder vielmehr gewor­den, mit der Zeit. Deshalb war sie doch gegangen. Was für ein Unsinn, sich dem ungebo­renen Leben opfern zu wollen, wenn man gerade einem gebore­nen Leben entflohen war! Und dann – wollte sie wirklich ihrem Kind das an­tun, was ih­re Mutter ihr angetan hatte? Den Makel, das Kainsmal der Ge­burt, die nicht hätte sein sollen, aufdrücken?
Als sie mit diesen Gedanken im Kopf und der Wut im Bauch bei der Bera­tungsstelle auftauchte, musste sie erstmal zur Toilette und sich übergeben.

Husten, heftig aber befreit. Der Arzt steht mit dem Beatmungsschlauch am Bett. Noch ist nichts klar. Dann hört der Husten auf, und sie atmet weiter, ganz alleine. Herzrhythmus und die anderen Blinklichter auf den Monitoren sind unregelmäßig, aber vorhanden. Sie ist einen Schritt weiter, aber noch nicht wieder da. Jetzt kann man sie erst recht nicht mehr alleine lassen.

In der Nacht, bevor sie den Termin zur Abtreibung hatte, jagte ein Alptraum den anderen. Mal drohte das Kind, gigantisch wie ein Drache, aber nackt und mit Nabelschnur, sie zu verschlingen. Mal höhnte ihre Mutter, mahnte ihr Ex. Dann wieder das Haus, der Garten, die Schule. Kurz sogar ihr eige­ner Traum, die Uni, ihre neue Wohnung. Aber sie stand mitten drin, Blut tropfte von ihren Händen, Blut, das sich nicht abwaschen ließ, Blut, das sich vor den anderen nicht verbergen ließ.
Als sie in der ambulanten Klinik ankam, schien ihr eine Narkose fast über­flüssig, so gerädert, so geschafft und so gefühllos empfand sie sich selbst. Das hätte auch den Vorteil, dass sie nichts zu erklären bräuchte, nicht schon wieder in ein fragendes, womöglich wieder abweisendes Gesicht blicken müsste, wenn sie mit Hinweis auf ihre Drogenvergangenheit eine opiatfreie Narkose ver­langte.
Aber das hatte sie bereits hinter sich, als ihr plötzlich klar wurde, sie konnte das nicht tun. So erschreckend, so unmöglich es war, dieses Kind zu bekom­men, an das, was da wuchs, als Kind auch nur zu denken, so unerträglich und unmöglich war es, sich auf diesen Stuhl zu legen, wegzudämmern, und den eigenen Körper erneut auszuliefern. Natürlich war das unlogisch, natür­lich reagierte sie panisch, als sie sich eiligst wieder anzog und, Entschuldi­gungen stammelnd, davon lief.
Sie verstand es ja selbst nicht. Es ergab keinen Sinn. Nichts ergab Sinn. Ziellos wanderte sie durch die Straßen. Sie begriff gar nicht, wo sie war, und das hatte nichts damit zu tun, dass sie eine andere Flucht erst vor kurzem in diese Stadt geführt hatte. Wenn sie schon nicht der Traum ei­ner anderen sein konnte, warum konnte sie dann nicht einfach aufwachen aus diesem Alptraum? Warum konnte sie nicht sein wie alle anderen, war­um konnte sie ihn nicht anrufen, das Kind kriegen und zufrieden sein? War­um konnte sie nicht einfach normal sein? Warum passierte immer ihr so et­was? Warum war sie eigentlich geboren worden? Es hätte sie doch gar nicht geben dür­fen.
Da wusste sie dann, was zu tun war, und plötzlich herrschte Ruhe in ihrem Kopf, indem sich Gedanken zuvor wie ein verrücktes Karussell immer schneller und schneller gedreht hatten. Eigentlich war alles ganz einfach.
Danach erinnerte sie sich nur noch an ein Quietschen, ein unglaublich lautes Krachen und etwas sehr, sehr Dumpfes.

Sie bewegt sich, und diesmal sind es keine unwillkürlichen, motorischen Re­aktionen. Sie stöhnt leise, atmet noch einmal tief aus, dann schlägt sie die Augen auf.
»Willkommen zurück«, sagt die Frau in Weiß, die an ihrem Bett sitzt und sie anlächelt. Sie will etwas sagen, aber es geht nicht, ihr Hals tut weh.
»Das kommt vom Beatmungsschlauch«, erklärt die Frau, deren weiße Tracht sie als Krankenschwester ausweist, »Sie haben ihn sich ein paar Mal fast rausgerissen. Aber das wird wieder.« Die Schwester verstummt.
Sie liegt einen Augenblick lang still, dann erinnert sie sich ihres Körpers und findet ihren linken Arm. Der rechte ist nicht zu übersehen, da stecken noch Nadeln und Schläuche drin. Vorsichtig deutet sie mit dem freien Arm auf ihren Leib.
Die Schwester schüttelt den Kopf.
»Der Unfall – Sie hatten noch Glück, selbst das Kind hatte eigentlich noch Glück. Aber … manchmal passiert es halt, als ob das Leben beschließt, es war ein Fehler«, versucht die Krankenschwester es.
»Unfall?«, krächzt sie nun doch. Und während die Krankenschwester ihr den Hergang erläutert, ihr von dem Bus erzählt, und der Operation und dem anschließenden Koma, begreift sie, dass das Leben tatsächlich ent­schieden hat. Sie betrachtet ihre Hände, natürlich ist kein Blut daran. Und niemand, niemand weiß, was sie wirklich vorhatte. Nur das Kind, das Kind, das jetzt nicht mehr existiert, die Welt voller Möglichkeiten, die ihren Leib verlassen hat. Plötzlich fühlt sie sich müde und leer, ganz leer. Der Raum zum Atmen, zum Leben, zum Wachsen ist da, in ihr und um sie. Sie hat ihn nicht verdient, nicht wirklich, das weiß sie jetzt. Nicht, weil sie nie hätte ge­boren werden dürfen. Nicht, weil sie ihr Leben gar nicht mehr wollte. Son­dern weil niemand diesen Raum, diese Leben verdient, weil es einfach ein Geschenk ist, das Geschenk eines launenhaften Universums. Dennoch oder gerade deshalb begreift sie erst, dass sie weint, als die Schwester sie vor­sichtig in den Arm nimmt. Sie weint nicht, weil ihr Leben verpfuscht war oder weil sie gerade eine neue Chance geschenkt bekommt, sie weint auch nicht, weil ihr Hals schmerzt und ihr Körper sich so zer­schlagen anfühlt, wie er sich nur nach einer unmittelbaren Begegnung mit einem Bus anfüh­len kann. Sie weint nicht, weil sie verletzt wurde, in ihrem Leben, oder weil sie gar erleichtert wäre, dass sie strenggenommen weder die Schuld am Tod des Kindes noch an ihrem eigenen Beinahe-Tod trifft. Sie weint um verlore­ne Möglichkeiten, die des Kindes, das nicht geboren werden wird, und die des Kindes, das geboren wurde. Sie weint, und weint und weint. Und end­lich weiß sie, was nicht gestimmt hat, nie gestimmt hat­te, denn das ist das allererste Mal, dass sie mit der Trauer das Leben spürt und es in Tränen fließen lässt.

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