Kaffeehauskurzliteratur

Wo ich gestern sowohl das Café Overbeck als auch meine Erzählung Der Koffer erwähnte, scheint es mir (nicht nur) für alle Essenunkundigen nur fair, das eine durch das andere nun noch ein Stück weiter vorzustellen. Soll heißen: Die heutige Leseprobe ist der Anfang des Koffers und dieser spielt nicht nur im Café Overbecks, sie kam mir dort auch in den Sinn. Merke: Manche Musen mögen Torten! 😉

Der Koffer

von

Mischa Bach

Weder der Mann noch sein Koffer waren ihr aufgefallen. Martin hatte sie am Morgen gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, und darüber dachte sie nach, als die Worte des Mannes Tassenklappern und gedämpftes Stimmengewirr im Café durchschnitten:

Könnten Sie einen Augenblick auf meinen Koffer aufpassen?“

Sie hatte aufgeschaut, das Lächeln des Herrn mittleren Alters erwidert, und genickt.

Danke. Darin ist mein ganzes Leben.“

Damit war er verschwunden, die Treppe hinunter. Das Café ging über meh­rere Etagen und ihr Tisch auf dem Zwischenabsatz neben dem Flügel ge­währte Einblicke in jede Ebene. Zumindest theoretisch, denn sie hatte ihm nicht nachgeschaut. Entweder ging er zum Kuchenbüffett im Erdgeschoss oder hinunter in den Keller zu den Toiletten, wo die Zigarettenautomaten hingen. Lange konnte es kaum dauern, denn es war ein ruhiger Montagnach­mittag.

Wieso war es Martin ausgerechnet heute eingefallen, sie zu fragen? Sie wa­ren schon eine kleine Ewigkeit ein Paar. Auf ihr „warum?“ hatte er nur ge­sagt, „denk drüber nach“. Was sie jetzt besser nicht tun sollte, denn gerade kam eine Gruppe Touristen die Treppe rauf und ging an dem Koffer vorbei.

Merkwürdiges Ding, dachte sie, irgendwo zwischen Aktenkoffer und Schminkkasten, aber aus glänzendem Alu und mit einem schwarzen Riemen zum Umhängen. Ob der Herr Fotograf war und der Koffer sein Arbeits­werkzeug enthielt? Oder war er Schriftsteller und in dem Metallkasten steckte ein bedeutendes Manuskript, gar seine Autobiographie? Dabei hatte der Mann gar nicht wie ein Künstler ausgesehen. Ein bisschen untersetzt, die Stirn sehr hoch, das restliche Haar angegraut und dazu ein wenig müde Augen. Nichts besonderes, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Einzig der Schnäuzer war anders, die waren zur Zeit nicht in Mode, oder? Obwohl – hatte er wirklich einen Schnäuzer getra­gen? Egal. Er musste gleich wiederkommen, dann würde sie es ja sehen.

Aber er kam nicht. Eigenartig, wo ihm sein Koffer so wichtig war. Viel­leicht war es ganz anders, vielleicht waren darin nur Akten? Die Kellnerin schaute zu ihr rüber. Sie bestellte noch einen Kaffee, sie hatte Zeit, sie brauchte Zeit. Wieso stellte Martin ihr eine solche Frage? Er wusste doch, wie schwer sie sich festlegte. Und dann all das, was er nicht wusste, trotz der langen Zeit, die sie schon miteinander verbunden waren … Es fiel ihr schwer, nachzudenken und zugleich auf den Koffer zu achten. Wo steckte der Mann bloß? Sie spähte hinunter zur Kuchentheke – drei dienstbeflissene Kellnerinnen standen dort und nur zwei Kundinnen, alte Damen, wie so viele Gäste des Cafés. Ihr Kaffee kam, sie versuchte, ihren Gedankenfaden weiterzuspinnen. Es gelang nicht. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab – das rote Fahrrad, das sie zum 8. Geburtstag bekommen hatte und das drei Tage später verschwunden war, fiel ihr ein. Und an das Schwesterchen, das sie sich immer gewünscht, aber nie bekom­men hatte, so dass es schließlich zu einer imaginären Freundin wurde, muss­te sie auch denken. Ein misslungenes Abendessen, bloß, für wen hatte sie das kochen wollen? Ein Auffahrunfall, aber wer war der Fahrer gewesen? Zwi­schendrin schaute sie immer wieder ungeduldig rüber zu dem leeren Tisch mit dem Koffer. Was wohl darin sein mochte? Immer abstrusere Dinge fie­len ihr ein – Schlüssel zu geheimen Orten, an denen er Frauen und Kinder versteckt hielt, Besitzurkunden für Häuser, Autos und andere Güter, geerbt von vor der Zeit verstorbenen, alten Damen, gar Reagenzen mit lauter win­zigen Klonen seiner selbst.

Wo sollen wir denn mit dem Koffer hin?“

Möchtest Du mit dem Rücken zur Treppe sitzen?“

Kann ich bitte Kakao haben“, tönte es plötzlich von dem verwaisten Tisch zu ihr rüber. Aufgeschreckt schaute sie hin und sah zwei Frauen, die es sich dort mit ihren Kindern bequem machen wollten.

Moment“, sagte sie, und ihre Stimme klang so ungewohnt, dass sie sich erstmal räuspern musste, „Entschuldigung, aber haben Sie den Koffer nicht gesehen? Dieser Tisch ist besetzt, der Herr muss gleich wie­derkommen.“

Die Kellnerin, die bereits neben den neuen Gästen stand, blätterte in ihrem Block und schüttelte den Kopf:

Ich habe weder eine Bestellung noch eine Rechnung für diesen Tisch. Und Ihr Tisch ist doch wirklich groß genug für Sie und Ihren Bekannten.“

Er ist kein Bekannter“, protestierte sie, „er hat mich nur gebeten, auf sei­nen Koffer aufzupassen.“

Das geht so auch“, wischte die resolute Kellnerin ihren Protest beiseite und stellte den Koffer neben ihren Stuhl. Sie wollte etwas erwidern, aber die irritierten Blicke der anderen Gäste hinderten sie daran. Die Kellnerin nahm inzwischen die Bestellung der beiden Frauen und der Kinder auf.

Ungläubig schaute sie zu. Langsam wurde die Geschichte lästig. Wo blieb der Mann? Sie schaute auf ihre Uhr – aber es half nichts, denn sie wusste nicht, wann er sie gefragt hatte. Der Kaffee jedoch, den sie auf ihn wartend bestellt hatte, der war bereits lauwarm. Ob dem Mann etwas zuge-stoßen war? Was sollte sie dann mit dem Koffer tun? Jetzt war der nur noch eine Armlänge von ihr entfernt … ob sie ihn öffnen sollte? Nein, so etwas gehörte sich nicht. Da der Mann nicht an der Kuchentheke war, konnte ihm höchstens etwas auf der Toilette passiert sein. Weil sie nieman­den bitten mochte, auf das Metallungetüm zu achten, nahm sie es mit hin­unter.

Die Herrentoilette zu betreten kam nicht in Frage. Also ging sie zu den Da­men, wo sie die Toilettenfrau vertieft in ihre Handarbeit vorfand.

Wissen Sie – können Sie mir sagen, ob in der letzten halben Stunde ein äl­terer Herr hier unten war? Ist ihm womöglich schlecht geworden“, wollte sie unbeholfen wissen. Ältere Herren seien einige hier gewesen, bestätigte die Toilettenfrau, ohne aufzublicken, aber zugestoßen sei niemanden etwas. Wieso? Die junge Frau er­klärte die Situation, schwenkte den Koffer wie zum Beweis. Die Toiletten­frau schaute nachdenklich. Wie habe der Herr denn ausgesehen, eigentlich eine naheliegende Frage.

Nur, sie konnte nicht antworten. Sie versuchte es, aber sein Bild ent-wischte ihr wie ein Traumgespinst. Sie wollte schon aufgeben und gehen, als sie draußen sein Gesicht auf einem Plakat zu sehen glaubte.

Wie bitte? Wir reden vom Oberbürgermeister!?“ rief die Toilettenfrau aus- Und wirklich, auf den zweiten Blick erkannte sie selbst das plakatge-wohnte Politikerantlitz. Es sah dem Herrn mit dem Kof­fer nicht mal ähnlich. Beschämt verließ sie das Kellergeschoss.

Ihr Tisch war inzwischen abgeräumt, aber immer noch frei. Sie setzte sich wieder. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Nur, sie konnte nicht ewig war­ten. Schließlich hatte sie noch andere Dinge zu tun. Auch, wenn diese ihr im Augenblick partout nicht einfallen wollten, sie verbrachte doch nie einen ganzen Nachmittag allein im Café. Jedenfalls glaubte sie das. Nicht mal dessen war sie sich noch ganz sicher.

Unschlüssig betrachtete sie das Zahlenschloss des Koffers. Wenn der Besit­zer die Zahlenkombination nicht verstellt hatte, würde sie jetzt einen Blick riskieren. Danach wüsste sie wenigstens, ob sie das Ding zur nächsten Polizeistation oder zum Fundbüro oder gleich zu seiner Adresse bringen sollte. Verstohlen schaute sie sich um – niemand sah her. Sie atmete tief durch und berührte ganz leicht das Schloss, da sprang es auf, als hätte es nur darauf gewartet. Sie wandte sich dem Inhalt zu. Im Innenfach auf der einen Seite fanden sich nicht, wie erhofft, irgendwelche Papiere, dort gab es nur vergilbte Briefe, private Korrespondenz. Sie betrachtete die Umschläge, doch die Anschrift war so verblasst, dass sie nicht einmal mehr den Namen entziffern konnte. Im Innenfach auf der anderen Seite steckten lose Fotos. Auch sie schienen alt und persönlicher Natur – Kinder waren darauf, ein Fahrrad auch, ein Haus. Auf den Rückseiten stand nichts, kein Fotostudio und auch keine Hinweise wie „Hannes dritter Geburtstag“. Im mittleren Teil des Koffers lagen ein paar Bücher, ebenfalls ohne Vermerk des Besitzers, eine Kamera, ein Etui mit Stiften und eine große, schwarze Kladde, die sich als Kreuzung aus Tagebuch und Kalender erwies. Nur, sie konnte die Schrift darin nicht lesen, so sehr sie sich auch bemühte.

Was darf ich Ihnen bringen“, fragte die resolute Kellnerin. Sie schrak zusammen und schloss den Koffer rasch.

Die Rechnung bitte.“

Sie belieben zu scherzen.“

Verwirrt schaute sie auf. Das war doch die Kellnerin, die sie bedient hatte, die ihr auch den Koffer aufgedrängt hatte, um den anderen Tisch freizuma­chen!

Also, was wünschen Sie? Sie können hier nicht sitzen, ohne etwas zu be­stellen“, die Stimme der Kellnerin kam nicht nur von oben, sie klang auch von oben herab. So wie man einem Kind etwas erklärt, von dem man glaubt, dass es das doch bereits wissen müsste.

Aber – ich hatte zwei Kaffee und auch ein Stück Mandeltorte! Erkennen Sie mich denn nicht, ich bin doch schon den ganzen Nachmittag hier – vor wenigen Minuten haben Sie selbst mir diesen Koffer vom Neben­tisch rübergestellt“, versuchte sie sich zu verteidigen.

Es half nichts. Die Kellnerin glaubte ihr nicht, das stand ihr ins Gesicht ge­schrieben. Dafür machte sie auf dem Absatz kehrt, ging eilig-entschlossen Schrittes auf den Geschäftsführer zu, der auf der obersten Ebene des Ca­fés herumstand und wichtig blickte.

Die Frau stand auf, sie war sich zwar sicher – zumindest sehr sicher -, dass sie im Recht war, aber sie wollte sich auf keine weiteren Diskussionen ein­lassen. Rasch verließ sie das Café. […]

aus: Der Koffer, von Mischa Bach, 2009 erschienen in: Schreiben in der Metropole Ruhr im Klartextverlag, hrsg. v. Volker Degener.

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