O du fröhliche II

… und weiter geht es mit O du fröhliche, meinem „Weihnachtsmehrteiler“ um Irene (nun per Bahn auf der Flucht):

Es dämmerte bereits, als Irene endlich die Bahnhofsmission verließ, um in ihren Zug zu steigen. Entgegen ihrer Erwartungen hatte sie tief und erschöpft auf dem Sofa dort geschlafen. Sie hatte sich sogar umziehen können. Schließlich war sie einfach aus der Wohnung gestürzt, hatte sich nur den eleganten Kashmirmantel über Jeans und Sweatshirt, die sie für gewöhnlich zu Hause trug, geworfen und ihre fertige Reisetasche geschnappt. Sie sah klasse aus in dem legeren Hosenanzug, wie eine Geschäftsfrau auf Reisen, so nannte das Björn. Und wenn es einen 19-Jährigen beeindruckte, musste es wirklich gut aussehen.

Armer Björn, dachte sie, wie wird es wohl für ihn werden, nach diesem ihrem letzten Weihnachten im Schoß der Familie? Sie glaubte nicht, dass Robert ihm fehlen würde. Die beiden hatten sich nie verstanden. Schon seit Björn ein kleines Kind war, hatte er sich immer gewünscht, einen anderen Vater zu haben. Dass dem bereits so war, hatte er erst gestern abend erfahren oder vielmehr erfahren müssen. Keiner der Eheleute hatte ihn vom Sport nach Hause kommen hören, zu sehr waren sie in ihrem Streit gefangen. Sie hatte eine alte Hotelrechnung gefunden, diesmal nicht nur ein Doppelzimmer, sondern gleich die Hochzeitssuite. Ausgestellt auf Roberts Namen und den seiner Sekretärin.

Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Am Abend zuvor noch hatte sie sich widerwillig, aber um Weihnachten und den Schein zu retten, in seine ekelhaften Sexspielchen gefügt. So, wie sie immer alles tat, was er von ihr wollte, seit sie sich damals im Humangenetikseminar an der Uni kennengelernt hatten. Schon die gemeinsame Promotion war eine Farce – Robert hatte das Bißchen, was daran seine Arbeit hätte sein sollen, geklaut und war dumm genug gewesen, sich dabei erwischen zu lassen. Um vor allem seine Haut zu retten – sie hätte ganz gut ohne Promotion leben können -, hatte sie ihre Haut zu Markte tragen müssen und mit ihrer beider Doktorvater eine Affäre angefangen. So war sie mit Björn schwanger geworden. Robert kümmerte das nicht, im Gegenteil: Er schien ganz froh, dass sie damit nach Erreichen ihrer Doktortitel statt seine Konkurrentin im Labor sein braves Eheweib zuhause wurde. Gönnerhaft erlaubte er ihr schließlich, die PR-Abteilung der Biotech-Firma mitzugestalten, deren Mitgründer er war. Was immer sie auch tat, er hatte die Kontrolle. Was immer er auch tat, war seine Sache.

Genau so hatte er am Vorabend auch reagiert, als sie ihn wütend mit der Hotelrechnung konfrontierte. Erst verwies er halbherzig auf den Fachkongress, den er besucht haben wollte. Sie hätte an der Stelle kleinbeigeben, alles stillschweigend verzeihen und vergessen können. Aber es reichte ihr. Diesmal wollte sie eine Entschuldigung – oder eine Entscheidung. Er sollte wenigstens die Bettgeschichte mit der Sekretärin eingestehen. Roberts Reaktion war so typisch wie verletzend. Statt auf ihre Vorwürfe einzugehen, machte er ihr Vorhaltungen: Was solle er denn tun, wenn sie anscheinend keine Lust mehr auf ihn hatte und nicht mal den Anstand besaß, sich um ihre Attraktivität für ihn zu bemühen? Überhaupt, er hatte mit keiner anderen Frau ein Kind, sie dagegen einen mißratenen, Schulserver hackenden Sohn von einem anderen Mann. Dass er darauf bestanden hatte, dass sie die wissenschaftlichen Wogen im Bett des Professors glättete, übersah er einfach. Und dass auch er sich um Björns Schul- und andere Probleme hätte kümmern können, interessierte ebenfalls nicht. Nein, es traf ihn nicht mal, dass der Junge plötzlich im Zimmer stand. Wie lange er ihnen schon zugehört hatte, wusste Irene nicht, aber es war wohl lange genug gewesen. Er hätte schon immer geahnt, dass Robert nicht sein Vater, aber eben ein durch und durch verlogenes Schwein sei, sagte Björn ätzend in das Schweigen hinein, das seinem Auftritt folgte. Und seine Mutter sollte bloß nicht glauben, dass er Großmutter und Tante zuliebe Familienfrieden bei Geheule unterm Weihnachtsbaum spielen würde. Von wegen »O Du Fröhliche«! Er nahm seine Tasche, die Irene vor- und fürsorgliche für die Feiertagsreise gepackt hatte. Er werde Weihnachten bei Freunden verbringen, und vielleicht hätte sein Mutter danach ja Konsequenzen gezogen. Er würde jedenfalls keinen Tag länger mehr mit diesem, diesem großkotzigen Lügner und Zuhälter seiner Mutter unter einem Dach verbringen. Irene lief ihm nach; sie konnte ihn nicht so gehen lassen. »Lass nur, Mama«, sagte er zum Abschied, »überleg’s Dir gut, was Du tust. Ich will Dich nicht verlieren.« Dann war er weg.

Sie wusste nicht, wie lange sie aus dem verschmierten Fenster des Zuges gestarrt hatte. Unbewußt zupfte sie einen imaginären Faden von ihrem Hosenanzug. Wie passend, ausgerechnet darin die Reise nach Hause anzutreten, wo alle sie für die wunderbare, erfolgreiche Tochter und Schwester hielten – glücklich verheiratet, berufstätig, und was nicht alles noch. Sie hatte seit Jahren mit diesen Vorurteilen aufräumen wollen, sich aber nie durchringen können, Mutter und Schwester ihre Illusionen zu nehmen. Schließlich waren sie doch allen Widrigkeiten zum Trotz allein, ohne »männlichen Schutz« auf dem Erbhof geblieben, auf dem sie alle aufgewachsen waren. Es schien irgendwie wichtig für sie, an Irenes Erfolg zu glauben, nur, jetzt, jetzt müsste sie ein für allemal mit diesen Flausen, diesen Träumen aufräumen.

Bei dem Gedanken seufzte sie vernehmlich, jedenfalls laut genug, um den fragenden Blick eines Mitreisenden von der anderen Seite des Ganges auf sich zu ziehen. Warum starrte er so? Sah man ihr an, was passiert war? Heimlich und unbemerkt, wie sie hoffte, schaute Irene an sich herunter. Natürlich waren da keine Blutspuren. Nicht mal auf der Jeans und dem Sweatshirt vom Vortag waren solch verräterische Flecken gewesen. Wie denn auch? Als Robert sie wiederholt demütigte, sie eine Hure nannte und schlimmeres, er dann noch nach ihrem Lieblingsweihnachtsengel griff und ihn zu zerschlagen drohte, weil sie doch niemals gegen ihn aufbegehren, den schönen Eheschein oder gar das verheulte, fröhliche Familienweihnachtsfest auf dem Hof stören würde, da hatte es ihr endgültig gereicht. Schneller und heftiger, als sie es je für möglich gehalten hatte, entriss sie ihm den Engel. Und bevor einer von beiden auch nur begriff, was vor sich ging, hatte sie ihm diesen an den Kopf geschlagen. Erstaunt, vollkommen erstaunt hatte ihr Mann sie da angesehen, bevor er wie ein nasser Sack nach hinten umfiel, den Weihnachtsbaum mitriss und dann liegenblieb. Wie eine Anklage hatte die eine, spitze Ecke des Baumständers aus seinem Adamsapfel geragt.

Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. Sie stürzte geradezu auf die Zugtoilette. Anschließend musste sie erneut die Kleidung wechseln, natürlich hatte der Zug genau im falschen Moment heftig geruckt. Vielleicht passten ja Lederhose und Kaschmirpulli auch besser zu ihrer neuen Rolle? Als sie zum zweiten Mal von der Toilette wiederkam, schüttelte der Fahrgast schräg gegenüber nur hinter vorgehaltener Zeitung den Kopf. Irene kümmerte das nicht, denn sie war fast am Ziel. Björns Uroma, ihre Großmutter Stine, lag im Krankenhaus in der Kreisstadt nahe dem Heimatdorf. »Die Generalprobe«, dachte sie, als sie die Klinke zum Krankenzimmer runterdrückte. Doch als Irene die gebrechliche, geradezu winzige 92-Jährige anblickte, brachte sie es einfach nicht übers Herz, auch nur eine Andeutung fallen zu lassen.

»Na, Kindchen«, begrüßte Stine die Enkelin, »ist Robert heute nicht da?«

Irene wusste nicht, was sie erwidern sollte, doch das war auch gar nicht nötig.

»Macht ja nichts, ich konnte ihn noch nie leiden, genauso wenig wie Deinen Vater Heinz, diesen Möchtegerne-Macho, diesen Patriarchen für Arme. Dabei hätte ich Dir wie Deiner Mutter mehr Glück in der Liebe gewünscht, als ich es hatte. Ich weiß auch gar nicht, warum sich Deine Schwester bis heute grämt, nur weil ihr Verlobter sie hat sitzen lassen«, im Plauderton erzählte die alte Dame und schickte Irenes Gedanken zurück in die Vergangenheit, oder das, was sie davon noch an dürftigen Erinnerungen hatte.

Stimmt, nur wenige Jahre nach Opa Adolfs tödlichem Unfall war ihr Vater verschwunden. Einfach so, von einem Tag auf den anderen, und auch das geschah, wie Irene plötzlich irritierend klar bewußt wurde, kurz vor Weihnachten. Dieses allererste Fest ohne ihn war eigenartig gewesen. Ihre Mutter musste geahnt haben, dass es ein Abschied für immer war, jedenfalls erschien sie Irene ähnlich schockiert, fast gelähmt wie nach dem Tod ihres Vaters. Die beiden Mädchen waren zunächst noch verunsichert, besonders, als Großmutter Stine entschied, dass die Geschenke für Heinz wegzupacken seien. Was, wenn Papa doch nach Hause gekommen wäre? Hätte das nicht ein furchtbares Donnerwetter gegeben? Sicher, tief drinnen, so gestand sie sich jetzt ein, war auch sie erleichtert gewesen, dass nun niemand mehr die exakte Ausrichtung der Servietten auf dem Tisch, der Kerzen und des Lamettas am Baum und all der anderen Kleinigkeiten kontrollierte, die Kinder in ihrer Lebendigkeit und erwachsene Bäuerinnen vor lauter Arbeit gern übersehen. Überhaupt, letztendlich hatte es ihnen allen gut getan, dass er fort war. Irene hatte endlich etwas, was sie von den anderen Mädchen in der Schule unterschied, etwas, was sie selbst für die beliebtesten Kinder dort interessant und geheimnisvoll machte. Und auch Linda brachte es Vorteile, denn die hatte plötzlich nicht nur Verehrer – bei einer 17jährigen wahnsinnig wichtig -, sie konnte sie auch gefahrlos mit nach Hause bringen. Da war ja niemand mehr, der die Jungs Erbschleicher und Waschlappen nannte, die sich wohl nur an ein entstelltes Mädchen wie Linda rantrauten. Wie war es eigentlich zu der riesigen Brandnarbe gekommen, die fast die gesamte, rechte Gesichts- und einen Großteil derselben Körperhälfte ihrer Schwester bedeckte? Irene wollte schon Großmutter Stine fragen, doch die schwärmte gerade von den Hausmacherwürsten, der Blutgrütze und den anderen Leckereien, die es auf dem Hof immer nach der Sylvesterschlachtung zu Neujahr gab. Hatte Stine wirklich soeben lächelnd bemerkt, dass die beim Jahreswechsel nach Heinz‘ Abgang besonders schmackhaft gewesen seien, so dass ihr Vater neben der Zeugung zweier prächtiger Töchter der Familie wenigstens noch einen Dienst erwiesen hatte?

»Aber was hat das nun wieder mit Robert und, wie hieß er noch? Peter? Lindas Verlobtem eben, zu tun?«, wollte Irene wissen.

»Ach, mit Peter gar nichts«, Stine machte, soweit der Tropf es zuließ, eine wegwerfende Geste, »der hat irgendwann begriffen, dass das ‚Weibervolk‘ ihm den Hof jedenfalls nicht überschreiben wird. Natürlich war Linda verletzt, aber, mal ehrlich: Das ist doch besser, als erst nach der Hochzeit zu begreifen, auf was für einen Schuft man sich eingelassen hat, oder?«

Großmutter blickte Irene direkt in die Augen. Verrückt oder dement sah sie eigentlich nicht aus, nur gebrechlich und, ja, und wütend. Konnte Stine hellsehen? Ahnte sie, wie sehr der Streit mit Robert eskaliert war? Oder was Irene nun bevorstand?

»Das reicht jetzt«, sagte Tante Linda mürrisch-bestimmt wie immer, als sie mit dem unhandlichen, schweren, in zwei große Müllsäcke gehüllten Paket vor dem ökologisch-korrekten Schweinestall standen, »Das hier willst Du nicht sehen. Geh ins Haus, hilf Serafine oder regel das mit dem Computer, aber geh.«

Björn zögerte, doch er ließ die Füße dessen, den er noch bis vor 24 Stunden unwillig seinen Vater genannt hatte, los. Tante Linda zerrte den Kadaver bereits in den Stall, als sie noch einmal inne hielt und den Neffen mit unwilligem Winken Richtung Wohnhaus scheuchte.

Es war sicher das Beste für alle.

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