Nachtangst

Ab morgen, wenn die Zeit umgestellt wird, werde ich ganz subjektiv (und wohl nicht nur ich) das Gefühl haben, die Nacht wird immer länger. Die Nacht in meinem Kurzkrimi Nachtangst hat zwar wenig mit Winterzeit zu tun, lang und vor allem bedrückend ist auch sie. Aber lesen Sie selbst (wenn Sie sich trauen):

Nachtangst

von

Mischa Bach

Alles vibriert. Es dröhnt, schlägt, hämmert mit ungeheurer Gewalt. Überall ist Vibration und Dröhnen, nirgends Luft. Keine Luft, mein Gott, rein gar keine Luft, dafür tonnenschwerer Druck auf der Brust. Okay – auf der Brust, das bedeutet, ich bin’s, ich bin noch da – aber was ist das? Was dröhnt, was drängt da, was vibriert und schlägt und pulsiert überall im Körper – ja ich bin im Körper, in meinem Körper, nur der ist, ich weiß nicht was. Gefangen in ihm bin ich, wie in einer Trommel, auf die ein Riese einschlägt. Luft, wieso krieg ich keine Luft? Was hält mich, was drückt mich nieder, nimmt mir den Atem? „Oh mein Gott“ – endlich, ein Schrei, mein Schrei. „Mutter!“ Noch ein Schrei und ich bin wach. Mutter? Das kann nicht sein. Sie ist tot, schon lange tot. Ich aber lebe. Denke ich, denn ich fühle, dass ich senkrecht im Bett sitze, zitternd wie Espenlaub, kein Wunder, ich bin nassgeschwitzt und es ist kalt hier.

Der Gedanke hallt durch mein von der Nachtangst leergefegtes Hirn. Schlagartig begreife ich: Wenn ich wach bin, wenn ich lediglich mit den Wechseljahren, mit nächtlichen Schweißausbrüchen und Angstattacken gerungen habe, wo ist mein Bett? Wo ist – woher kommt das Geräusch, atmet da wer? Mein Ex ist vor Jahren aus- und mein späterer Lebensgefährte nie eingezogen. Meine Tochter lebt schon ewig mit ihrem Freund zusammen. Und mein Sohn … ist tot. Ich will nicht an ihn denken. Schon gar nicht in dieser undurchdringlich, feindlichen Schwärze der Nacht. Schon gar nicht, wo ich immer noch nicht weiß, was ist passiert, wo bin ich. Immerhin, der Atem ist meiner – jetzt, wo ich ihn angehalten habe, ist die Stille nicht zu überhören.

Ich nehme mich zusammen, atme aus und wieder ein; öffne und schließe und öffne meine Augen. Es bleibt dunkel, also ist dies ein dunkler Ort. Vorsichtig taste ich mit meinen Fingern den Bereich um mich herum ab. Beton, eiskalt, staubig und schmutzig, das sagt mir die erste Berührung. Ich bin nicht verletzt, hier ist nirgends Blut. Wie sich Blut vermischt mit Staub auf Beton anfühlt, weiß ich, seit ich den Fehler machte, die Begeisterung meines Ex für den ersten großen Rohbau, den er in der Stadt als Architekt errichtet hatte, nicht spontan genug zu teilen. Hinter mir ist eine Wand, das spüre ich mit dem Rücken, genau wie vor mir eine sein muss. Das signalisieren meine Fußspitzen – ah, ich habe Schuhe an, nicht nur Socken, das ist gut, nicht nur, weil mich die steinerne Kälte des Betons an meinen Zehen erschrecken würde. Aber – auf meiner linke Seite ist gar nichts! Wieder beginnt mein Herz zu rasen, bricht mir der Schweiß aus. Ich versuche ruhig und tief zu atmen. Ich zwinge mich, mit meiner rechten Hand Halt zu suchen. Als ich nur Zentimeter neben meinem Oberschenkel ein Stück senkrechten Beton spüre, vielleicht zwei Handbreit hoch, dann wieder ein Stückchen Boden, begreife ich, ich bin auf einer Treppe und nicht etwa am Rand eines Abgrundes. Erleichtert will ich mich aufrichten, doch noch bevor ich meine Knie durchstrecken kann, stoße ich mit dem Kopf gegen etwas – ist das hier doch keine Treppe?! Wieder überwinde ich meine Angst, verbanne ich alle Bilder möglicher und unmöglicher Schrecken, die in der tiefen Schwärze dieser Nacht lauern könnten, und taste. Holz, mehr Holz, dann Metall – eine Art Falltür, aber über mir, und sie ist nicht verschlossen, ich muss also überhaupt nicht panisch werden.

Ich öffne die Tür und strecke mich der Nachtluft und dem Sternenhimmel über Duisburg entgegen. Wie hell der Nachthimmel sein kann …! Begierig atme ich und dehne mich so in die Weite über der dunklen, aber keineswegs stockdunklen Stadt. Ich meine den nahen Rhein zu spüren und die Ebene dahinter auch, die sich bis Holland, bis hinter den Horizont erstreckt. Frei, ich bin frei, denke ich. Noch während sich mein Körper entspannt, entkrampft, ja fast so etwas wie Freude, geradezu Euphorie mich durchströmt, erfasst mich erneut Panik: Hier bin ich also, hier auf dem Dach des heruntergekommen Hochhauses in Hochheide! Damit weiß ich, welcher Teufel mich geritten hat und ich verfluche den Tag, an dem ich meinen Sohn gebar.

[…]

Wer mehr wissen will, wendet sich an den Buchhändler seines Vertrauens und besorgt sich die ganze Geschichte, die in folgender Anthologie zu finden ist:

Mischa Bach: Nachtangst, aus: Dessert für eine Leiche“ Hrsg. v. Ina Coelen, Leporello 2008.

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