Auf die Bretter geschickt

Allüberall startet die Theatersaison. Das lässt mich an Bühnentod denken, einen meiner Kurzkrimis, in dem ich mich u.a. mit dem Dionysischen Rausch beschäftigte, der besagt, dass Künstler während der Ausübung ihrer Kunst nur beschränkt zurechnungsfähig sind … und weil sich die meisten Menschen darunter wenig vorstellen können, gibt es hier eine Leseprobe:

Bühnentod

von Mischa Bach

III. Akt, 1. Szene. Ein öffentlicher Platz in Verona. So steht es im Textbuch. Auf der Bühne umkreisen Tybalt und Mercutio einander, verwickelt zuerst in ein Wortgefecht, dann in einen Kampf auf Leben und Tod. Über Tische und Stühle, getürmt zu absurden, gefährlich aussehenden Bergen geht es in rasantem Tempo hinweg. So haben es sich Bühnenbildner und Choreograph gedacht. Romeo, frisch verliebt, verheiratet und auf Frieden gestimmt, kommt hinzu, will die Kämpfenden trennen. Ein verhängnisvoller Fehler. Keiner der beiden Kampfhähne rechnet damit. Wieso greift Romeo ein? Was bezweckt er? Er stellt sich zwischen die beiden, den Rücken zum Freund Mercutio gewandt, nach vorn auf Tybalt, bis vor kurzem noch ein Todfeind, einredend. Mercutio hebt die Arme, als wolle er dem Duellgegner sagen, ich weiß auch nicht, was er hat. Tybalt zögert nicht. An Romeo vorbei sticht er zu, elegant, gekonnt und gnadenlos trifft er Mercutio.

Sie alle, auch Benvolio, der andere Freund Mercutios, brauchen einen Moment, um zu begreifen. Romeo will noch einmal beschwichtigen, so schlimm kann es doch nicht sein, aber Mercutio stirbt in seinen Armen, Capulets wie Montagues verfluchend. Ein grandioser Bühnentod, ein großartiger Abgang für eine ebensolche Rolle. Jetzt erwache ich, ich Romeo, wie aus tiefem Schlaf, wie aus einem Traum. Ich sehe rot, aber nicht mehr das Rot der Liebe, sondern das der Wut und auch des Blutes meines toten Freundes. Ich stürze hinter Tybalt her, erwische ihn am Kragen. Er reißt sich los, wir jagen über Stühle wie über Wippen, benutzen umgestürzte Tische wie Barrikaden. Schließlich bekomme ich ihn zu fassen, ihn, der meinen Liebestraum zerstört hat, ihn, durch den ich jetzt meinen Lebenstraum erschlagen werde. Ich werfe ihn zu Boden, springe hinterher und packe ihn bei den Schultern. Wieder und wieder zerre ich ihn so hoch und schlage seinen Oberkörper mit aller Macht – so soll es jedenfalls aussehen – zu Boden. Wie ein Berserker, wie ein Wahnsinniger, im Blutrausch eben. Wäre das die Realität und keine Choreographie, wäre sein Hinterkopf geborsten, würde jetzt sein Hirn zermatscht. Sein Körper würde schlaff und damit immer schwerer, und ich würde aufhören, weil die Anstrengung, ihn noch einmal zu heben, noch einmal zu Boden zu schleudern, selbst die Kraft meiner Wut erschöpfen würde —

Plötzlich gerieten die Dinge ins Stocken. Stimmen waren zu hören, aber nicht Benvolios Stimme, die mich vor den nahenden Bürgern warnt. Nein, das war der Bühnenmeister – wieso kam der auf die Bühne, gefolgt vom Sanitäter? Was war hier los – wieso brechen die die Vorstellung ab, dachte ich, und registrierte in einem Winkel meines Bewußtseins, dass der Vorhang fiel. Dann war der Sanitäter neben mir und schubste mich von Tybalt runter. Jetzt erst sah ich den merkwürdigen Ausdruck in Tomas‘ – also Tybalts – Augen, und auch, wie seltsam verdreht sein Hals da lag.

Alles drehte sich nun um ihn, und mir drehte sich der Magen um. Was hatte ich nur getan, was war nur passiert? Eben noch war ich in Shakespeares Verona, alles verlief nach Plan, nach Textbuch, und nun stimmte nichts mehr. Die Regieassistentin rief mit ihrem Handy einen Krankenwagen herbei. Der Inspizient hatte im Publikum einen Notarzt gefunden. Helene, die Julias Mutter und Tybalts Tante spielte, wollte sich auf Tomas stürzen, aber man hielt sie zurück. Der Notarzt stand vom Boden auf und schüttelte gravitätisch den Kopf. Hier kam er mit seiner Kunst zu spät. Helene riss sich los und raste wie eine wütende Megäre auf mich zu.

»Mörder«, schrie sie, »Du Mörder!«

Mir wurde schwarz vor Augen.

[…]

Mischa Bach: „Bühnentod“. aus: „Mörderische Mitarbeiter“, hrsg. von Ina Coelen und Ingrid Schmitz, Scherz 2003.

Leider ist die Anthologie schon recht lang vergriffen, so dass Sie antiquarisch zuschlagen müssten, wenn Sie weiterlesen und nicht auf eine Neuveröffentlichung warten wollen … 

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