Hier oben unterm Dach ist es zu heiß, mir einen neuen Blogeintrag (oder etwas anderes) auszudenken – also gibt es heute wieder eine Leseprobe. Und zwar aus einer meiner Lieblingsgeschichten. Vollmond erschien 2002 zuerst bei Scherz in „Tödliche Nachbarn“, 2004 in „Brillante Morde“ bei Leporello. Es war 2002 für den Glauser in der Kategorie „Bester Kurzkrimi“ nominiert und wurde mehrfach in englischer Übersetzung publiziert. Und so fängt diese Geschichte an ….
Vollmond
von Mischa Bach
August
Am Tag nach dem Vollmond zog sie ein. Monatelang hatte die Wohnung nebenan leer gestanden, monatelang hatte sich niemand außer mir und Sally ins Dachgeschoß des alten Hauses verirrt. Ich allein war der Herr der Dächer gewesen, und so fluchte ich erstmal, als mich der Lärm der Möbelpacker in der Früh weckte. Sally hob ihren Kopf, blinzelte mich verschlafen und fragend an. Ich stand leise auf, schlurfte zur Tür und sah durch den Spion. Ein breiter Rücken versperrte die Sicht, dann kam ein grosser Schreibtisch und schließlich eine weitere, breite Schulter. Immerhin kein Klavier, dachte ich, und ging in die Küche. Sallys kalte Hundeschnauze erinnerte mich freundlich, aber bestimmt daran, dass es Zeit fürs Frühstück war.
Während der Kaffee durch den Filter tropfte – ich kann Kaffeemaschinen genausowenig wie Elektroherde ausstehen -, und Sally sich über ihren Napf hermachte, ging ich ins Bad. Gestern nacht war es zu spät zum Saubermachen gewesen, und so sah es noch aus wie im Saustall. Ich fluchte leise vor mich hin – normalerweise schlief ich nach einer Vollmondnacht bis zum Mittag und hatte mindestens die ersten zwei Tassen Kaffee nebst Zigaretten hinter mir, wenn ich das Bad betrat, aber, sei’s drum. Bei neuen Nachbarn wusste man nie, was sie womöglich brauchen würden …
Später, nachdem der Umzugswagen vor der Tür verschwunden war, ging ich mit Sally nach draussen. Ich nahm den Bus raus aus der Stadt, raus zu den Industriebrachen am Fluss, wo einen niemand störte oder Fragen stellte. Wo man höchstens mal ein paar Punks begegnete, halbe Kinder noch, mit deren Hunden Sally rumtoben konnte, und mit denen ich rumsitzen und rauchen konnte, ohne reden zu müssen. Und ohne dass jemand auf mich oder mein Feuer aufmerksam wurde. Heute war niemand da, vermutlich gab es irgendwo eine spontane Fete oder sie hatten sich an den Baggersee verzogen, bei der Hitze kein Wunder. Auch gut, denn am Tag nach dem Vollmond blieb ich am liebsten allein.
Liebste Helen,
Du hattest recht – eine Wohnung, die solange leer steht, riecht wie ein Grab. Es hat fast eine Woche Durchlüften gebraucht, um das loszuwerden. Jetzt habe ich alle Fenster aufgerissen, draussen zwitschern die Vögel, Kinder spielen lärmend, in der Ferne rauscht der abendliche Verkehr, und so wird das Ganze allmählich bewohnbar, fast angenehm.
Natürlich hattest Du auch recht, was Dachschrägen angeht – ich habe sie unterschätzt und konnte meinen Kleiderschrank nur im Flur aufstellen. Was aber so unpassend nicht ist, denn ein Flur ist sonst nichts als toter Raum, und so werden meine beiden Zimmerchen wenigstens ein bisschen grösser.
Ach, Helen, Du merkst sicher schon, ich rede mir die Dinge mal wieder schön. Liebste Helen, wenn ich das nächste Mal wegen einem Kerl die Stadt verlassen will, halt mich fest, bind mich an, leg mich in Ketten, lass es einfach nicht zu! Ich hasse es, von vorne anfangen zu müssen, neue Wohnung, neue Nachbarn, neue Kollegen, neue Läden, neue Kneipen, nichts stimmt mehr, alleine auf der Welt und das auch noch ohne ein vertrautes zuhaus‘, das mir ein Rückzugsort sein könnte!
Eine Szeneblatt, klar, da wollte ich schon immer mal arbeiten. Die Kollegen sind auch sehr nett, viel angenehmer als in der Stadtredaktion, und es hat was für sich, einen monatlichen statt einen täglichen Redaktionsschluss zu haben. Nur, dass ausgerechnet ich über einen Serienmörder schreiben soll, dass ich ausgerechnet bei einem linken, ansonsten eher kulturlastigen Blatt so ein Thema übernehmen soll, das hätte ich mir nicht träumen lassen. Den Werwolf nennen die Leute ihn. Morde passend zu Redaktionsschluss, meint mein Chefredakteur nur, aber ich find’s schauderhaft. Nun ja, aber ich will Dir ja keine schlaflosen Nächte bereiten. Die Kulturfabrik würde Dir übrigens sicher gefallen, liebste Freundin, viel exotischeres aus der Tanzszene, auch darüber schreibe ich jetzt – und schreibe ich viel lieber als über Kanninchenzucht- und Bürgervereine. Aber jetzt, jetzt bin ich müde, also, schreib mir schnell, wie es Dir geht und wann Du mich besuchen kommst! Deine Lizzy
[…]
Ach ja: wer weiterlesen will, ist leider auf antiquarische Ausgaben angewiesen, denn zur Zeit ist keines der Bücher oder Magazine, in dem die Geschichte veröffentlicht ist, mehr lieferbar. 🙁