Keine Ahnung, ob es den Plural von Einsamkeit tatsächlich gibt. Aber erstens gibt’s in der Realität nun mal verschiedene Formen von Einsamkeit und zweitens geht’s mir grad um die Einsamkeit im Vielesein …
… oder allgemeiner, die Einsamkeit der Überlebenden. Darum wird es ja auch bei der Stimmengewirr–Lesung in der Reihe „Montagsprosa“ gehen.
Es mag auf den ersten Blick geradezu paradox klingen, wenn ich von Multiplen Persönlichkeiten und ihrer Einsamkeit schreibe. Ist es aber nicht. Man muss sich nur ein paar Dinge vor Augen führen:
Im Kern, im Inneren sind wir alle einsam. Denn kein Mensch kann sein Innerstes ausdrücken, kommunizieren, mit-teilen – also bleibt es un-gesagt, un-berührt, für sich, eben einsam. Das ist ganz normal, jedenfalls in meinen Augen. So ist das Leben, jedenfalls ein Menschenleben nun mal. Das ist nicht zu ändern, dagegen kann man nicht erfolgreich ankämpfen, man muss es aber auch nicht.
Bei multiplen Menschen ist das nicht anders, nur weil sich da dann verschiedene Personen einen Körper teilen. Das ändert nichts daran, dass unser Innerstes uns selbst unbegreiflich und deshalb nicht in Worte zu fassen ist.
Am schlimmsten fühlt sich die Einsamkeit unter Menschen an. Allein auf einem Berggipfel oder unter der Dusche zu stehen, das ist nicht weiter beachtenswert, da muss sich niemand einsam fühlen (kann man, muss man aber nicht). Aber sich auf einer Feier, mitten unter Verwandten oder gar unter Freunden einsam zu fühlen, eben getrennt von den anderen, das ist ganz und gar nicht gut. So einsam und hundeelend fühlt man sich allein nie. So vom Rest der Menschheit getrennt, auf ewig verbannt geradezu … so kann sich auch jeder einzelne in einem multiplen System fühlen. Oder aber als Teil eines solchen Systems, nur außen unter lauter Menschen, die man selbst nicht kennt.
Sich anders zu fühlen, macht einsam. Anders zu sein erst recht. Ersteres kennt fast jeder Mensch, vermute ich jedenfalls. Zweiteres zumindest (fast) jeder multiple Mensch … und die meisten Gewaltüberlebenden auch. Egal, was der Therapeut sagt, was in Fach- und Sachbüchern steht und der Kopf womöglich noch begreift – dass Opfer von Gewalt Opfer heißen, weil sie genau das sind bzw. waren: hilflos, überwältigt, ausgeliefert -, tief drinnen bleibt der nagende Zweifel. Irgendwas muss man doch falsch gemacht haben bzw. man selbst kann doch nur falsch sein, sonst wäre einem so etwas doch nicht einfach passiert (merkwürdigerweise ändert die Erkenntnis, dass Gewaltüberlebende so insgeheim nur über sich selbst, aber nicht über andere Gewaltopfer denken, nichts wesentliches …).
Einsam macht, was man nicht (mit)teilen kann. Traumata sind per se erstmal nicht mitteilbar. Wie Monolithen stehen sie da, verweigern sich der Integration in die Lebensgeschichte und erzählen, wie könnte man von ihnen erzählen? Selbst wenn es keine Drohungen seitens des Täters gab, selbst wenn man nicht zur Geheimhaltung genötigt, gezwungen wurde – über er- und überlebte Gewalt zu reden, ist für die meisten Menschen (erstmal) ein Ding der Unmöglichkeit. Also bleibt jeder damit für sich, allein, eben einsam. Und dass in einem multiplen System ggf. verschiedene Opfer und Überlebende nebeneinander existieren, voneinander isoliert nicht nur durch die ursprünglichen Amnesien, sondern auch durch Angst, Schmerz, Scham, aufgezwungene Schuldgefühle und dergleichen mehr, macht die Sache nicht besser.
Unglauben, Ablehnung macht ebenfalls einsam. Und dass darauf Multiple immer wieder stoßen, dass ihnen noch häufiger als andere Überlebenden mit Skepsis, Zweifeln, unverhohlener Ablehnung begegnet wird, liegt leider nahe. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf … weil’s niemand sehen wollte und will, erst die Gewalt und das Grauen übersehen, dann die Folgen geleugnet werden … darum ist es überhaupt nicht paradox, im Zusammenhang mit multiplen Persönlichkeiten von Einsamkeit zu sprechen.
Einsamkeiten
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Tut gut, eigene Gedanken von anderen geschrieben (und gedacht)schwarz auf weiß zu lesen – macht weniger einsam :o)!! DANKE DAFÜR